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Talk 2000
Schlingensiefs Wechsel vom Film zum Theater folgt der zeitweilige Wechsel vom Theater zum Fernsehen. Der von RTL und Sat.1 im Kulturfenster Kanal 4 sowie vom ORF ausgestrahlte TALK 2000 (1997), Schlingensiefs Einstand als Talkmaster, unterwandert die Standards des Sendeformats.
Die den acht Ausgaben vorangestellten Themen und die geladenen Gäste (Hildegard Knef, Harald Schmidt, Gotthilf Fischer u.a.) zeichnen sich ganz grundsätzlich durch ihre vollkommene Austauschbarkeit aus. Schlingensief verzichtet auf jede Art von Vorbereitung und Absprache mit seinen Gesprächspartnern, die mitunter dementsprechend schockiert auf unabsehbare Sendeverläufe reagieren.
"Das ganze wird mit fahrigen Kameras eingefangen," charakterisiert der Zürcher Tagesanzeiger die Grundatmosphäre des Talks, "das Bild ist öfters schräg als gerade, kurz: Talk 2ooo ist das totale Durcheinander, das finale Chaos. Der ultimative Abgesang auf eine Fernsehform, die sich längst totgelaufen hat und die dennoch nicht totzukriegen ist, weil sich alle an sie gewöhnt haben wie an schlechtes Wetter oder an rheumatische Schmerzen."
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Szenenfoto: Still aus Schlingensiefs Talk 2000 (1997/avanti media) |
TALK 2000 ist voll von Peinlichkeiten, privaten Enthüllungen, Tabubrüchen und betont schlechten Simulationen schlechter Talkshows.
Das vorsätzliche Plagiat erfährt überschwänglichen Zuspruch genauso wie schärfste Ablehnung, so wie sie die Zuschauerpost zum Ausdruck bringt: "Es ist für mich das Allermieseste, was je über TV gelaufen ist. Schwachsinnig, primitiv, ordinär, total schmutzig, menschenverachtend und beleidigend. (...) Hoffentlich kommt mal wieder eine Zeit, in der solcher Abschaum verboten werden kann."
TALK 2OOO weckt die Sehnsucht nach Ruhe. Der ultimative Talk beschreibt im Subtext eine Zeit davor eine Zeit der persönlichen, der direkten Rede an Originalschauplätzen des alltäglichen Lebens. Man `talkte´ im vertrauten Kreis und unter Ausschluss eines gierigen Millionenpublikums. Dieser Talk 1950 fand im Wohnzimmer, am Stammtisch, im Treppenhaus statt. Sein Kamera-Auge war der Spion in der Wohnungstür, eine Art Ursprung des Voyeurismus und der Denunziation.
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Szenenfoto: Still aus Schlingensiefs Talk 2000 (1997/avanti media) |
Aus diesem übelriechenden Sumpf kamen die ersten Sprechblasen. Hier hat das öffentliche Geschwätz begonnen, das bis in die Gegenwart hinein aus allen Fugen, sprich: in alle Kanäle geriet. Zwei öffentlich-rechtliche Programme mit grundgesetzlich verankertem Auftrag beherrschten die Szene. Es gab Fernsehstuben oder man hat sich beim einzigen Nachbarn mit der Flimmerkiste getroffen. Die Palette an Stars war überschaubar: Robert Lembke und Was bin ich? - ein kleinbürgerliches, dafür aber völlig unverbindliches Berufs-Outing -, Werner Höfer und der Internationale Frühschoppen oder Erik Ode als Trenchcoat tragender Kommissar waren feste Größen einer fassbaren Fernsehlandschaft; Peter Frankenfeld, Lou van Burg und Hans-Joachim Kulenkampff die guten, weil unverwechselbaren Bekannten von nebenan. Das hatte von Anfang an etwas Entsetzliches, passte aber auf eine entsetzliche Weise zum Land.
In Anbetracht der Entwicklung zum Talk 2000 stellen wir fest: Vorbei ist die Zeit des latent miefigen Feierabendgeflimmers; statt dessen Partystimmung rund um die Uhr. Das beginnt beim Frühstücksfernsehen und geht mit Wiederholungen vom Vormittag bis in die Nacht. Alle Moderatoren wollen, dass man sie anfaßt. Sie sind schon um 6 Uhr früh hellwach, lächeln uns nieder und stürzen auf uns zu: Animateure müder Konsumenten, gut gelaunt und vollkommen unterbelichtet. Aus der Flimmerkiste ist eine Unterhaltungskanone geworden. Kerner und Maischberger, Marianne und Michael, Beckmann und Pilawa... - biologische Waffen.
Unter dem Einfluss des fast-food-TV ist selbst die entlegenste Medienprovinz zum Teil der anonymen Massengesellschaft mutiert, geschluckt von der in öffentlich-rechtlich und privatwirtschaftlich organisierten Sucht nach neuen Zielgruppen, höheren Einschaltquoten und größeren Marktanteilen. Die Satellitenschüssel auf dem Dach und der Kabelanschluss im Keller künden von der Grenzenlosigkeit der (Un-)Möglichkeiten. Der Stumpfsinn ist Programm, die Durchschnittlichkeit trage täglich neue Namen: "Fliege" (ARD) - "Auch Behinderte haben ein Recht auf Sex", "Nicole" (Sat.1) - "Pfui Teufel! Mit dir war ich mal im Bett" oder "Andreas Türck" (Pro 7)) - "Keine Arbeit, keine Freunde und jetzt auch noch schwanger"...
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Szenenfoto: Still aus Schlingensiefs Talk 2000 (1997/avanti media) |
Das Geschwätz geht weiter und verirrt sich vom familiären Wohnzimmer über den verschworenen Stammtisch in die TV-Studios, wo die Flut der Bekennenden, der Betrogenen, der Ausgegrenzten und der Enttäuschten vor ihrem Talkmaster sitzen wie Hühner auf der Stange: "Arabella" (Pro 7) - "Ich bin schwul, warum glaubt ihr mir nicht" oder "Oliver Geißen" (RTL) - "Vor meinen Brüsten haben alle Männer Angst" ...
Angewidert bis verzweifelt rufen wir die Gerichte an, um diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor den Kadi zu kriegen; wir kriegen TV-Richter und für den Fall, dass wir ob dieser Ausweglosigkeit völlig kollabieren Dr. Verena Breitenbach. Uns kann nicht mehr geholfen werden.
Vorbehaltloses Verständnis ist die Voraussetzung dieser Unkultur. Hier ist jeder normal und jeder Normale der Star - für wenige Minuten, zwischen zwei Werbeblöcken. Das uneingeschränkte Mitfühlen des Moderators, sein Opportunismus, paart sich nicht, nein, es fickt hemmungslos mit der freiwilligen Erniedrigung der Gäste und der totalen Toleranz eines sensationsgierigen Publikums. Auf allen Kanälen: jubelnde, klatschende, jaulende Zuschauer in den Studios. Sie recken die Hälse, werfen die Arme hoch und reißen die Münder auf zum Geschrei. Sie treffen einander nicht mehr zu Hause vor dem Fernseher, sondern im Fernsehen. Statisten ihres eigenen Feierabendvergnügens. Ihr Programm ist nicht mehr zum Anschauen, sondern zum Mitmachen. Der Traum von diesem Fernsehen hat sich dann erfüllt, wenn alle in der Kiste sitzen. Dann gibt es nur noch ein Programm, nicht das Erste, sondern das Letzte: Kanal total.
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Szenenfoto: Still aus Schlingensiefs Talk 2000 (1997/avanti media) |
Die Bilder- und Sprechlawine, die Vermittlung von Lebensweisheiten wird unaufhaltsam, der ganz normale Alltag zum ganz normalen Wahnsinn. Die Niveau- und Geistlosigkeit des Fernsehens, der Shows charakterisierten den Weg in die mediale Katastrophe. Vorgeführt werden einsame Singles, verstörte Outsider, elitäre Schwule. Und sie lassen sich vorführen: Boris Becker in Monte Carlo, Dieter Bohlen in Naddel. Asylanten kommen zu Wort - man gibt sich weltoffen; Arbeitslose kommen zu Wort - man ist sozial; Straßenmusikanten schildern ihr Schicksal, ein letztes Hecheln der Kulturbeflissenheit. In der Katastrophe sehen alle gleich aus: Schwule wie Türck, Asylanten wie Erich Böhme. Alle werden ihrer Besonderheit beraubt. Es gibt keinen anderen mehr. Wir werden vernichtet vom Konsens. Die Sendeanstalten offenbaren alles und jeden zum Selbstzweck. Denn gäbe es nichts mehr zu sprechen, müsste man schweigen. Der Gefährdung durch einen stillen Moment wird die Endlosschleife des sinnfreien Geschwätzes entgegengestellt. Das selbstverliebte Kabarett um Papa Hildebrandt und Enkel Deutschmann hat sich auf Wochenshowniveau hinab gelassen - und eingenistet. Was ist schon eine aufrechte Haltung gegen den Liegekomfort eines schlüpfrigen Witzes?
TALK 2OOO ist eine Show der Verzweifelung, denn sie ist verdammt. Sie erklärt ihr eigenes Medium für tot - und kann deshalb der Leichenfledderei nach Lust und Laune frönen. Sie verwirrt durch den Umstand, dass keinerlei Ausweg geboten wird. Es ist so, wie es ist. Und so sieht es aus!
TALK 2OOO beschert einen reinen und gerade deshalb trashigen Abgesang auf das unpersönliche, das unseriöse, das schlichtweg unwahre Fernsehen, symbolisiert durch das Aushängeschild jedes konsumorientierten Programms: die (Talk-)Show. Der Untergang einer nicht mehr, vielleicht niemals vorhandenen Fernsehkultur wird gerade dort zur Schau (nicht zur Diskussion!) gestellt, wo es jeder Betrachter am wenigstens erwartet - im Fernsehen selbst.
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Szenenfoto: Still aus Schlingensiefs Talk 2000 (1997/avanti media) |
TALK 2OOO beschwört das Ende der Talkshows, das Finale des fernsehgerecht aufbereiteten Geplappers.
Der außerordentliche Charakter ist schnell erkennbar: Schlingensiefs Gäste sitzen auf einem rotierenden Sofa wie auf dem Teller einer Mikrowelle und drehten sich um ihre eigene Achse. Das allein macht schon Sinn: Etwas dreht durch, läuft ins Leere und mündet in Sackgassen und handfeste Saalschlachten. Schlingensief verlässt den Moderatorensessel, prügelt sich mit seinen Gästen, verleiht dem Publikum neue Identitäten oder tritt kurzzeitig entnervt von der Bühne ab.
Auf ignorierte Themenvorgaben und Scheinargumente folgen Handgreiflichkeiten. TALK 2OOO ist keine Vision von der Talkshow der Zukunft, sondern von deren Ende und vom Ende des exhibitionistischen, des aufdringlichen, des peinlichen Fernsehens. Trivialität wird zur Maxime. Dort, wo hinter all dem scheinbar sinnlosen Chaos und der kindlichen Anarchie die Plattheit, die Seicht- und Alltäglichkeit der Talkshows imitiert wird, ist eine solche Trivialisierung zwangsläufig und gewollt. Sie deutet letztlich sogar den ernstzunehmenden Ansatz dieser Talkshow wider die Talkshow an.
TALK 2OOO bezeichnet den Versuch, das Fernsehen mit den Mitteln des Fernsehens zu demaskieren und zu überwinden. Er führt die von den Sendern betriebene Koketterie mit der Sinnhaftigkeit aller Formate ad absurdum, indem er sich ihres wesentlichsten Elements bedient - der schamlosen Öffnung von Privatsphäre.
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Szenenfoto: Still aus Schlingensiefs Talk 2000 (1997/avanti media) |
Zusätzliches Material zu Talk 2000
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Talk 2000
Kanal 4 für RTL, Sat.1 und ORF, 1997
Regie: Cordula Kablitz
Konzept: Christoph Schlingensief, Cordula Kablitz
Produktion von avanti media, Berlin und Lichtblick, Köln im Auftrag von Kanal 4; (c) 1997 avanti media; Lichtblick
Mit: Christoph Schlingensief, Sophie Rois, Hildegard Knef, Rudolph Mooshammer, Walter Bockmayer, Harald Schmidt, Ingrid Steeger, Konrad Kujau, Lilo Wanders, Rolf Eden, Alexander Prinz von Hohenzollern, Udo Kier, Beate Uhse, Helmut Berger, Kitten Natividad, Gotthilf Fischer u.a.
Zusatzmaterial
- Bilderstrecke
- Talk 2000 Ausschnitte
Publikationen
- Talk 2000 Buch
Externe Links
- avanti media
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