„(…) IN DIESEM WAHNSINNSBUCH“ (FAZ)

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Christoph Schlingensief, der Regisseur und Energiekünstler, hat Krebs. Jetzt hat er sein Krankheitstagebuch veröffentlicht. Es ist eine Kampfschrift für das Leben geworden, so, wie er sich das gewünscht hat.

VON VOLKER WIEDERMANN

Und einmal ist da wieder dieses große Lachen. Dieses große, gewaltige Schlingensief-Lachen, als diese sonderbare Frau in sein Krankenzimmer kommt. Er war ihr kurz vorher schon auf dem Krankenhausflur begegnet, es war einer seiner ersten Wege zu Fuß nach seiner schweren Operation, bei der man ihm einen Lungenflügel und einen Teil des Zwerchfells herausoperiert hatte.

Sie trug ein Betttuch in der Hand und sah aus, als sei sie unterwegs in irgendeinen Wellnessbereich. Aber sie ging wohl nur verwirrt umher, und später kam sie also zu Christoph Schlingensief ins Zimmer. Er fragt höflich, was es gebe, sie sagt nur „Herr Decker, Herr Decker“. Darauf Schlingensief: „Herr Decker ist nicht hier.“ In dem Moment taucht eine Putzfrau auf, zeigt auf den Boden und ruft: „Ach du Scheiße, Kacke!“ Und Schlingensief richtet sich auf in seinem Bett, schaut und sieht, dass ihm die wirre Dame tatsächlich ein Häufchen vor die Tür gesetzt hat. Und der Patient lacht und lacht. „Ich hab‘ so dermaßen gelacht, dass ich meine Narbe festhalten musste.“

Er ist unversehens in eine seiner eigenen Inszenierungen hineingeraten, in eine Schlingensief-Theaterinszenierung: „Sie kam mir vor wie eine alte, entgleiste Anhängerin von ,Chance 2000′, die mir auf diese Weise ihre Verehrung zeigen wollte“, schreibt Christoph Schlingensief in seinem „Tagebuch einer Krebserkrankung“, das in diesen Tagen unter dem Titel „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein“ erscheint.

Wähle dich selbst!

„Chance 2000“, das war Schlingensiefs legendäre „Partei der letzten Chance“ aus dem Bundestagswahlkampf 1998, in der er unter dem Motto „Wähle dich selbst“ Verlorenen, Geisteskranken, übersehenen Danebenstehern eine Stimme gegeben und sie auf die Straße, auf die Bühne und in die Zeitungen gebracht hatte. Verrückte Menschen, einsame Menschen, mit einer riesigen Freude daran, einmal im Leben auf sich aufmerksam zu machen. Auf den Plakaten, die sie trugen, stand groß „Ich“.

Daran erinnert sich der Patient jetzt, am 5. Februar 2008, in seinem weißen Zimmer. Die Operation ist gut verlaufen. Aber was heißt schon „gut“, wenn einem ein Lungenflügel fehlt, wenn ein Stück Gore-Tex ins Zwerchfell eingenäht wurde, wenn eine lange, lange Chemotherapie bevorsteht, die ihm jeder in den allerdunkelsten Farben ausmalt: „Ihre Freunde werden sich von Ihnen abwenden. Sie werden stinken, die Haare verlieren. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie groß das Elend wirklich wird, und am Ende wissen Sie nicht mal, ob das alles hilft.“

Elend, traurig und schön

So sieht die Zukunft aus. Dabei ist die Gegenwart schon dunkel genug. Es ist ein schreckliches Buch, das der Regisseur und Energiekünstler Christoph Schlingensief da geschrieben hat, ein elendes, ein wahnsinnig trauriges, ein sehr, sehr schönes Buch. Der Krebs hat die Macht übernommen über ein Leben, das, zumindest in seinem öffentlichen Teil, immer vor allem aus Energie, völliger Freiheit, Plötzlichkeit, mitreißendem Enthusiasmus, Wut, immer neuen „Projekten“ und gigantischer Ausprobierfreude zu bestehen schien. Schlingensief als teilnehmender Regisseur auf der Bühne, das heißt ja immer elektrische Luft (und die Angst des unbeteiligten Zuschauers, dass man jeden Augenblick geohrfeigt werden könnte oder irgendwie sonst Teil des Dramas wird). Jetzt also: Unfreiheit total. Die Krankheit bestimmt, wie es weitergeht.

Am Anfang, die Aufzeichnungen beginnen am 15. Januar 2008, steht die Ungewissheit. Ein PET steht bevor. Bislang ist es nur ein Verdacht, doch jetzt kommt er in „die Röhre“, um Gewissheit zu haben. „Diesmal wird das Ergebnis aber die Öffnung zu einem Weg sein, der noch gegangen werden muss.“

Das Ergebnis lautet „Tumor“. Und Christoph Schlingensief beschreibt sich selbst, wie er in seiner Heimatstadt Oberhausen, wo die Untersuchung stattgefunden hat, am Zaun seines alten Kindergartens steht und auf seine Freundin wartet, die sich mit dem Radiologen noch einmal das CT ansieht. „Ich habe das eigentlich alles sehr kühl aufgenommen“, schreibt er. Christoph Schlingensief ist 47 Jahre alt. Doch „kühl“ wird er nicht lange bleiben. Schon wenige Zeilen später heißt es: „Die Angst ist gelandet.“ Sie wird bleiben, die Angst, auf den nächsten 250 Seiten, die das Tagebuch umfasst. Bis zum Ende des Jahres, an dem das Tagebuch seiner Erkrankung endet.

Ein Therapiebuch

Was ist das für ein Buch? Zunächst, ja, ein Therapiebuch für den Patienten selbst. Es kann ja gar nicht anders sein: Ein Mann, der sein Leben damit verbracht hat, die Welt in eine Schwingung zu versetzen, Menschen aus ihrer Lethargie herauszuaktivieren, dass ein solcher Mann im Krankheitskäfig verrückt zu werden droht, noch viel mehr als jeder andere, den ein solches Leid befällt, das liegt ja auf der Hand.

Schlingensief diktiert und diktiert in ein kleines Diktafon hinein. Am Anfang ist er noch sichtlich um eine Inszenierung bemüht, selbst noch ganz verzaubert von all den neuen Bildern, die ein solch radikal neuer Lebenszustand mit sich bringt: „Es gibt eben Bilder, die haben keine Eindeutigkeit, in so einem Bild befinde ich mich zurzeit. Und ich habe das schließlich immer gemocht, dass es Bilder gibt, die nicht eindeutig sind, die aus Überblendungen bestehen und auf die die Leute völlig unterschiedlich reagieren.“ Er geht dann zum Grab seines Vaters, der ein Jahr zuvor gestorben ist, und erinnert sich an die Dunkelheit, die dessen letzte Lebenszeit umgab; er schwört sich selber ein, dass er „diese schwarze Energie nicht will“, dass er unter keinen Umständen in diesen Pessimismus hineinrutschen wird, pathetisch verspricht er, dass er ein Opernhaus in Afrika bauen wird, wenn er aus dieser Sache heil wieder rauskommt. Und als wäre das jetzt nicht schon dick genug versprochen, kommt auch noch die Natur hinzu: „Es war ein total schöner Moment. Und dann – das hört sich jetzt spinnert an -, aber in dem Moment, als ich das gesagt hatte, wurde der Himmel so rot wie der Brokatstoff in den Bildern, die ich vor ein paar Tagen bei diesen Halluzinationen gesehen hatte.“

Die Sprachlosigkeit des Sterbens

Da denkt man dann schon mal kurz, ob es nicht vielleicht auch ohne Brokatsonne gehen würde und ob die Sache nicht schon dramatisch genug ist, aber erstens war es ja wahrscheinlich einfach die Wirklichkeit, und zweitens ist der Gestus des Stilkritikers bei einem Tagebuch, in dem es ums Überleben geht, sowieso irgendwie sehr fehl am Platz. Der Regisseur selbst hat in seinem Vorwort geschrieben, um was es ihm mit seinem Buch geht. Es sei, so hofft er, vielleicht eine Kampfschrift geworden „für die Autonomie des Kranken und gegen die Sprachlosigkeit des Sterbens“. Ihm selbst habe es geholfen, das Schlimmste, was er je erlebt habe, zu verarbeiten, und jetzt habe er die Hoffnung, dass es anderen Erkrankten oder Angehörigen vielleicht auch ein wenig helfen könne. Vor allem aber soll es eine Kampfschrift fürs Leben sein, für das Leben hier auf der Erde, für das Glück hier unten und die Liebe zu sich selbst.

Das sind die schönsten und anrührendsten Passagen in diesem Wahnsinnsbuch. Wenn er einfach schreibt: „Und ich lebe doch so gerne.“ Wenn er immer, immer wieder mit Gott rechtet, mit seinem Gott, ihn anklagt: „Und das, lieber Gott, ist die größte Enttäuschung. Dass du ein Glückskind einfach so zertrittst.“ Alle Phasen einer solchen Krankheit muss er durchkämpfen, den Unglauben, den unbedingten Willen zum Kampf, den Willen zum Optimismus, die dunklen Stunden, in denen all das Wollen gar nichts hilft, die Momente der totalen Selbstüberschätzung, Selbstüberhöhung und die Tage in Mäuschengröße. Und immer das Warten auf das Urteil, immer im Bann des nächsten Röntgenbildes, der nächsten Einfahrt in „die Röhre“. Dazu immer, immer, immer die Frage: „Warum?“ und „Warum ich?“ und das Schweigen dazu. Es gibt keine Antwort. Der frühere Messdiener Schlingensief nähert sich Gott, entfernt sich von Gott, beschimpft Gott, will zu seinem Kinderglauben zurück und findet ihn nicht mehr.
Parsifal und Todesrausch

Einen Moment gibt es, an dem der Sucher Schlingensief glaubt, den Augenblick gefunden zu haben, als das mit dem Krebs begann. Der Arzt nennt ihm den Zeitpunkt des Ausbruchs der Krankheit, Schlingensief rechnet zurück und kommt zu: Bayreuth, 2004. Seine „Parsifal“-Inszenierung. Damals hatte er gesagt, nach Bayreuth bekomme er Krebs. Sein behandelnder Arzt hat das nachgelesen und beschwört ihn jetzt: „Sagen Sie so etwas nie wieder!“ Und Schlingensief sinkt in den Wagner-Strudel. Wütet gegen die „Todesmusik“, die „gefährliche Musik“, die nicht das Leben, sondern den Tod feiere. Und fürchtet das Hanno-Buddenbrook-Schicksal: Tod durch Wagner. Und „den Fascholaden Bayreuth“. Es musste wohl so kommen, dass Schlingensief, der sich in seiner Kunst wie kaum ein Zweiter von Bildern deutscher Geschichte infizieren ließ, dass ausgerechnet er nun glaubt, an der deutschesten aller Künste, an Richard-Wagner-Kunst, zu sterben.

Doch auch dieses Motiv wird sich auflösen von Diktat zu Diktat. Irgendwann in der Mitte des Jahres brechen die Aufzeichnungen für eine Weile ab. Chemotherapie, Hoffnung auf neue Projekte, etwas Ruhe. Gegen Ende des Jahres setzt es mit dem größten Schrecken wieder ein: Auch der zweite Lungenflügel ist befallen. Die Hoffnung wird immer kleiner. Der Optimismus ist weg. Er beginnt Abschiedsbriefe in sein Handy zu tippen und diktiert: „Wenn ich in einem Buchladen in Büchern über fremde Länder blättere, dann rollen schon die Tränen.“

Es ist der 24. März 2009, an dem er das Vorwort zum Buch verfasst. Es liest sich, als habe Christoph Schlingensief auch endlich eines dieser Ich-Plakate seiner Chance-2000-Demonstranten übernommen: „Die Liebe Gottes manifestiert sich vor allem in der Liebe zu uns selbst! In der Fähigkeit, sich selbst in seiner Eigenart lieben zu dürfen und nicht nur in dem, was wir uns ständig an- und umhängen, um zu beweisen, dass wir wertvoll, klug, hübsch, erfolgreich sind. Nein! Wir sind ganz einfach wunderbar. Also lieben wir uns auch mal selbst. Gott kann nichts Besseres passieren.“

FAZ, 21.04.2009