DER HIMMEL DARF SCHLINGENSIEF NOCH LANGE NICHT WOLLEN (TAGESANZEIGER)

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Christoph Schlingensief hängt mit aller Macht am Leben. Das beschreibt er in seinem «Tagebuch einer Krebserkrankung».

Von Simone Meier

Eine Welt ohne Christoph Schlingensief geht nicht. Bei diesem Gedanken kapituliert die Vorstellungskraft, und das Auge weint fast wie auf Knopfdruck. Denn Christoph Schlingensief ist ja nicht nur der Theaterregisseur, der sich, seine Schauspieler, sein Publikum und alle Kritiker regelmässig über den Rand der Überforderung hinausführt, der in Interviews Dinge redet, die oft zu hundert Prozent unverständlich sind, der gar nichts für unzumutbar hält und dann doch fast in jeder seiner Arbeiten auch wieder rührt, berührt, verführt.

Christoph Schlingensief (48) ist wahrscheinlich auch der liebenswürdigste Mensch, den das deutschsprachige Theater seit vielen Jahren kennt, ist klug, warmherzig, lustig, ein grosszügiger Selbstvergeuder vor dem Herrn, ein seltsam beharrlicher Familienmensch auch, immer ist er allen sofort Bruder oder Sohn – nur Vater war er bisher noch nie, aber das möchte er im richtigen Leben noch sehr gerne werden. Er versteht es, Menschen über Jahre an sich zu binden, Menschen etwa wie die früheren Fassbinder-Diven Irm Hermann (66) und Margit Carstensen (69), die begeistert sind, dass da wieder einer an ihrer Seite steht, der wie einst Fassbinder die verrücktesten Ideen an sie heranträgt und ihnen restlos alles zutraut.

Metastasen wie «Schneeflocken»

Die Wechsel zwischen Schlingensief, dem grossen Rasenden, der in Zürich den «Hamlet» mit echten, brachialen Neonazis bestückt und in Bayreuth Wagner inszeniert, und Christoph, der spontan mit einer Handvoll Leute eine lustige Carfahrt durch Berlin und eine Reichstagsbesichtigung organisiert, sind fliegend und flirrend. Einer geht mit dem andern immer Hand in Hand, Christoph Schlingensief ist stets ein ganzer Kosmos, ein System, das Private wird bei ihm immer öffentlich in seiner Kunst, die kreative Vereinnahmung aller, die ihm quasi den kleinen Finger des Interesses hinstrecken, ist total. Grosse Fische wie Patti Smith hat er so schon zum Teil seiner Kunst und damit natürlich auch immer seines Lebens gemacht.

Und dann wird dieser Feuerwerkskörper aus Ideen und Emotionen plötzlich erschüttert und ruhiggestellt. Weil bei Christoph Schlingensief Anfang 2008 Krebs diagnostiziert wird, weil ihn dieser Krebs zuerst einen Lungenflügel und einen grossen Teil seines Zwerchfells (es wurde durch einen Goretex-Lappen ersetzt) kostet, weil sich im Winter im andern Lungenflügel wieder wie «Erbsen» oder «Schneeflocken» zwanzig neue Metastasen bilden. An dieser verzweifelten Stelle endet nun Christoph Schlingensiefs Tagebuch seiner Krankheit mit dem ergreifenden Titel «So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!». Er hat kurz nach der ersten Diagnose angefangen, die Tagebucheinträge auf sein Diktiergerät zu sprechen, sie umfassen die Zeit vom 15. Januar bis zum 27. Dezember 2008, und natürlich sind sie himmeltraurig.

Es ist die Geschichte einer Krankheit und die Geschichte einer Liebe, die beide verschmelzen, so, wie bei Christoph Schlingensief immer alles verschmilzt, was für ihn zählt. Da ist der Krebs, der sein Leben elend macht, und da ist seine Freundin, die Berliner Kostümbildnerin Aino Laberenz, die ihren Patienten mit bewundernswerter Nüchternheit immer wieder in den Alltag zurückholt und dabei nicht nur als Kranken-, sondern auch als Seelenpflegerin vieles auszustehen hat.

«Parsifal» war sein Verhängnis

Einerseits ist Christoph Schlingensief nämlich so was wie der pflegeleichteste aller Krebspatienten. Schnell hat er seinen «Professor Kaiser» gefunden – «einen der besten Lungentypen» –, den er als kompetente Vaterfigur adoptiert und dem er überglücklich gehorcht. Andererseits gehen ihm, dem Mann mit der «Kitschnudelfabrik» im Kopf, natürlich alle möglichen Pferde sofort durch, und er steigert sich in mystische Szenarien: Er macht sich Gott, Christus und Maria zu besten Freunden, Maria und Aino werden eins, Christoph und Christus auch, er möchte «die Bibel umschreiben», und die Frage nach dem Sinn des Leidens in und an der Welt liegt wuchtig über allem. Man muss da manchmal einfach ein paar Seiten überspringen.

Wie selbstverständlich gipfelt der Wahn im Wagnerianischen, nämlich in der Erkenntnis von Professor Kaiser, dass Schlingensiefs Tumor zum Zeitpunkt seiner «Parsifal»-Proben in Bayreuth zu wachsen begonnen habe. Das ist dramaturgisch natürlich grandios, fast hat man es erwartet, und es ist grossartig, wie Schlingensief dann über den «Fascho-Laden» Bayreuth herzieht, der das Liebäugeln der Nazis mit Todeskult und Selbstauslöschung via Zyankalikapsel noch immer pflegen würde. In solchen Passagen ist er ganz der virtuose alte Welt- und Wertezertrümmerer.

Und dann ist er wieder einfach nur ein kleiner kranker Körper. Beobachtet sich selbst und seine Systemstörungen mit verblüffender Ironie und träfen Kommentaren und ist dabei ein Mensch, der so sehr am Leben hängt, dass jede Zeile schmerzt. Als er zum Beispiel vier Tage nach seiner grossen Operation am 2. Februar im Lift vier Stockwerke hoch fahren kann und auf die Normalstation verlegt wird, freut er sich so sehr über diese kleine Reise, «als sei es die Mondlandung». Und immer wieder sagt er: «Danke, lieber Gott, dass ich Aino habe. Was für ein Glück.» Er wird da auch zum Kind, hilflos gegenüber der Krankheit, aber dankbar aufgehoben im Kreis seiner Liebsten. Patti Smith bemuttert ihn am Spitalbett, Peter Zadek, der selbst schwer krank gewesen war, vermittelt ihm einen Onkologen. Der grosse, gefühlige Höhepunkt, mit dem das Buch schliesst, sei hier nicht verraten, er ist erneut dramaturgisch perfekt, und überhaupt weint man die letzten 20 Seiten eigentlich durch.

Sich selbst und uns treu geblieben

Mit einer medialen Inszenierung des eigenen Sterbens, wie sie die ebenfalls an Krebs erkrankte Engländerin Jade Goody zelebrierte, hat der Fall Schlingensief nur auf den ersten Blick zu tun. Natürlich lebt auch er wie Jade Goody von der Aufmerksamkeit, aber er hat sich mit seinen Kunstaktionen im vergangenen Jahr und mit seinem Buch nicht aus einem Milieu und einer Herkunft herausgehievt, die für ihn nicht mehr zu ertragen waren. Christoph Schlingensief war ein glückliches Kind und immer schon ein kreativer Exhibitionist. Dass er sich in seiner Krankheit nicht zurückgezogen hat, zeigt nur, dass er sich und uns noch immer mit der gleichen Hingabe treu geblieben ist, und das ist gut so.

Im Moment geht es ihm übrigens etwas besser als am Ende des Buches, auch wenn er am Dienstagmorgen einen Auftritt in Berlin wegen eines Fieberschubs absagen musste. Aber die Metastasen im zweiten Lungenflügel sind dank einer erfolgreichen Therapie verschwunden. Seine Aino will er bald heiraten, und wer weiss, vielleicht leben die beiden dann noch lange und glücklich und werden miteinander sehr, sehr alt. Denn eine Welt ohne Christoph Schlingensief, die ist nun wirklich nicht vorstellbar.

Tagesanzeiger vom 23.04.2009