Wer sich durch Schlingensiefs animatografischen Parcours im Burg-Zuschauerraum bewegt, ähnelt Parsifal…
Von Ronald Pohl
Wer sich durch Christoph Schlingensiefs animatografischen Parcours im Zuschauerraum des Wiener Burgtheaters bewegt, ähnelt Parsifal: Ihm wird die Zeit, wo nicht lang, so doch zum Raum. Der Raum ist staatstheatralisch. Er beschreibt zugleich einen säkularen Weihebezirk.
Der Begehungsgast von Area 7 wird von einer Mythenzentrifuge erfasst, die ihn mit menschlicher Kotgeschwindigkeit (laut Schlingensief 320.000 km/sec) in einen schlauchförmig gelegten Geburtskanal presst, der die avancierteste Videokunst mit Sperrmüllartefakten und Bruchholzkanten konfrontiert.
Ein radikal menschenfreundlicher Dichter beschrieb den christlichen Schöpfungsgott, von dessen Abschaffung Schlingensief unter anderem handelt, einst als „Schwein“: Der Herr habe den Sitz der Genitalien wohl absichtlich dort geparkt, wo üblicherweise dampfende Ausscheidungen hervorquellen. Welchem krankhaften Gemüt ein solcher Gedanke entsprossen sei?
Schlingensief, der um das säkulare Gewicht des aller sakralen Lasten entbundenen Künstlers weiß, ist ein gewiefter Lottotrommeldreher. In den Verdauungsschläuchen seiner Fantasie werden chemische Hochzeiten gezündet: Parsifal, der „reine Tor“, ist dazu verdammt, die Moderne zu wiederholen.
Er muss zu diesem Zweck eine „Arche“ betreten, deren Grundriss zwar einem Sakralraum ähnelt, die aber, wenn sie nicht gerade Bayreuths Grünem Hügel aufhockt, dem Berg Ararat deutscher Selbstvergewisserung, selig durch Zeiten und Kontexte schippert. Es darf einem nicht schwindeln als Besucher von Area 7. Man muss mindestens die sieben Schöpfungstage getreulich nachvollziehen wollen, um aus dem Assoziationstheater Schlingensiefs einen teutonischen, einen geradezu Teutoburger Kunstgenuss zu ziehen.
Dann wird freilich wirklich alles gut. Die Geißel des Eklektizismus, seit Theodor W. Adornos „Kulturindustrie“-Verdikt unter ideologischem Generalverdacht, kehrt als fröhlich durchdrehender Reanimierungsmixer wieder. Schlingensiefs Verwertungsmaschine steht, was den Charme ihres Hyperaktivismus ausmacht, unausgesetzt unter Strom. Sie quirlt das Blut einer als Pumpe verstandenen Moderne.
Schlingensief parkt auf dem zweifelhaftesten aller Kunst-Gemeinplätze: Dort, wo das Ausüben von Kunstpraktiken einen Zugang zu „unverstellten“ Lebensmodellen gewährleisten soll. Schlingensiefs Idole heißen, ohne jede Vollständigkeit, Joseph Beuys, Dieter Roth oder Richard Wagner. Sie leben jeder fort in zimmergroßen Andachtsställen, deren Begehung einem Ritus des schöpferischen Nachvollzugs folgt.
Man begegnet Katzenbälgern, die dem Physiker Schrödinger entrissen worden sind. Man sieht Kaufhauszelte, die „Verwaltung“ und „Obsession“ heißen und in lachhaften Tunnelkonstruktionen miteinander verbunden sind. Man fühlt sich auratisch von Fett und Filz bedrängt und ahnt dunkel: Im Wachrufen von Kunstgeschichtsschatten liegt Schlingensiefs kaum zu überschätzendes Ingenium.
Wo nun alles zur Menschwerdung des lebenslangen Infantilmenschen mindestens ödipal zusammenschießt, braucht auch nichts mehr „gespielt“ zu werden. Zweifelhafte physikalische Teilchenangaben wechseln im Mund des Vorführers (Schlingensief) mit noch viel okkulteren Angaben zu einem quasi „gegenöffentlichen“ Geschichtsentwurf.
In einem Raum des Animatografen, der einer Kapelle mit Andachtsbänken ähnelt, stehen in ungelenken Lettern die an die Wand gemalten Sätze des unseligen US-Präsidenten Richard Nixon, der die auf dem Mond verunfallten Astronauten mit Patriotismusfloskeln bedenkt. Es kam zwar bekanntlich anders; aber in Schlingensiefs Worten hätte immerhin für Jesus Christus (!) die Möglichkeit bestanden, auf dem Mond zu sterben. „Sterben“, das meint: „Überleben“. Denn wer oder was stirbt, verdient es auch, von ihm auf seiner Globus-überspannenden Passionsreise von Bayreuth über Island und Namibia in den Himalaya recycelt zu werden.
Schlingensief über die Herzkammer seiner Installation, etwa an der Portalkante der Burgtheaterbühne gelegen: „Mich interessiert nicht die Schlange, die sich in den Schwanz beißt, sondern diejenige Schlange, die sich selbst in den Arsch hineinkriecht, um dann im eigenen Mund wiederaufzuerstehen!“ Ihr Züngeln ist das Theater eines, der das Theater endgültig überwunden hat.