Wie kam es zu „Area 7“ – und was ist ein Animatograph? Über Ziele, Perspektiven, mögliche Wurzeln von „Area 7“.
Von Barbara Petsch
Alles begann Anfang 2004, am grünen Hügel, als Christoph Schlingensief sich im Auftrag von Wolfgang Wagner auf den „Parsifal“ stürzte. So einem Stoff entkommt ein Künstler nun einmal nicht so leicht. Im November darauf zeigte sich das bei „Kunst und Gemüse, A. Hipler“ an der Berliner Volksbühne. Und im Mai 2005, als man mit dem spitzbübischen Maniac zu seinem jüngsten Exzess, dem „Animatographen“, in einen Reykjaviker Keller hinabstieg, stieß man immer noch auf Bayreuth. Schlingensief ist mit Wagner eben noch nicht fertig. Dagegen hatte Bachs „Matthäus-Passion“ – mit der sich der Berufsprovokateur eigentlich fürs Burgtheater beschäftigen wollte – anscheinend keine Chance mehr.
Nach Island vergangenen Mai, dem ehemaligen DDR-Militärflughafen in Neuhardenberg („Odins Parsipark“) im September und der jetzt für Wien titelgebenden Containersiedlung „Area 7“ in Namibia, wo Schlingensief im Oktober den Film „African Twin Towers“ drehte, ist das Burgtheater jetzt die vierte Station des „Animatographen“. Dabei handelt es sich um eine stetig anwachsende, begehbare Installation samt mobiler Drehbühne, in der Theater, Oper, Film und Aktionismus zum superlativen Schlingensief-Abenteuerpark verschmolzen sind. Als „Aktionistische Fotoplatte“, „Seelenschreiber“ oder „überlebensgroßes Porträt der Alltäglichkeit“ beschreibt der Regisseur seine Materialschlacht selbst. Zitiert wird hier vom interkulturellen Neo-Mythenforscher so ungefähr alles und viel mehr, was man sich im positiven wie negativen von der nordischen bis zur afrikanischen Tradition unter Geistern, Göttern, Helden vorzustellen vermag.
Die Idee zum „Animatographen“ hat Schlingensief sich übrigens vom britischen Filmproduzenten Robert W. Paul geliehen, der unter diesem Namen Ende des 19. Jahrhunderts einen Apparat präsentierte, mit dem bewegliche Fotos auf die Bühne projiziert werden konnten. So sollte das Theater durch den Film reformiert werden.
Genie oder Scharlatan? Für konservative Theaterbesucher ist das keine Frage bei Christoph Schlingensief: Wenn überhaupt Genie, dann eines in Eigen-Vermarktung, meinen sie. Freunde des Aktionskünstlers haben ab kommender Woche Gelegenheit, nach „Atta Atta“ und Jelineks „Bambiland“ eine weitere Schlingensief-Kreation im Haus am Ring zu besichtigen: Aus einer Bearbeitung von Bachs „Matthäus Passion“ im Gefolge des Bayreuther „Parsifal“ wurde „Area 7, Matthäus-Expedition“, auch eine Art Leidensgeschichte als begehbare Aktions-Installation. „Area 7“ ist ein Slum in Namibia, Schlingensief drehte dort im Oktober 2005 seinen Spielfilm „African Twin Towers“.
Im Jänner sind sechs Aufführungen. Das Projekt ist aufwendig, ein Work in Progress, das sich auf Kunst-Verwandte Schlingensiefs bezieht wie Dieter Roth, Joseph Beuys oder Elfriede Jelinek. Sie hat einen Text für die Aufführung geschrieben, und liest ihn auf Video; Jelineks Text-Flächen, wie es sie auch in der Musik heute gibt, passen gut zu Schlingensief. US-Rocksängerin Patti Smith tritt persönlich auf, auch beim Info-Abend.
„Ich will das Leben überzeugen, dass es zum großen Teil inszeniert ist, und das Theater, dass es ohne das Leben überhaupt nicht auskommt.“ Typisch griffiger Schlingensief-Sager – und zutreffend, aus vielen Gründen: Simulation, Virtualität, Realität sind eins geworden. „Wie in einer Blackbox wird die Welt aufgesogen, das Hirn als Archiv und die Kamera als Auge“, heißt es im Ankündigungstext. Schlingensiefs Welten sind Reise-Erinnerungen zwischen Oberhausen, wo er geboren ist, Berlin, Afrika, Brasilien. Es sind Welt- und innere Reisen in der Art von Chris Markers Film „Sans Soleil“, wobei der Zugriff ebenso opulent wie zeitkritisch ist. Schlingensief freilich mischt der Wirklichkeit Fiktion und Fantasy bei.
Die Realität bietet Fundstücke, ist Material, das nach den Ideen der Konzeptkunst bearbeitet, auch brachial verändert wird. In Schlingensiefs Kreationen leben aber auch alte Modelle weiter, etwa jenes des barocken Welttheaters (Vom Himmel durch die Welt zur Hölle) wie es heute noch in Hofmannsthals „Jedermann“ in Salzburg erscheint oder in den ebenfalls höchst beliebten Passionsspielen. Die präzis kalkulierte Wirkung soll sakral, mythisch, aber auch politisch sein. Der ehemalige Ministrant Schlingensief verbindet missionarisch-religiöse Emphase mit Agitprop wie etwa in provokanten Slogans („Tötet Kohl!“) oder in seinen Container-Aktionen, die auch in Wien Aufsehen erregten. Die Idee ist, dem Theater „Blut“ zurückzugeben, welches vor allem ein jüngeres Publikum in alten Texten aus fernen Zeiten vermisst. Erstaunlich ist immerhin, wie viel Sinnlichkeit Schlingensiefs Medien-Welttheater vermittelt, das, flüchtig und assoziativ wie Gedanken von einem Ort zum anderen eilt.
So alt wie das Theater selbst ist die für Schlingensief typische Sehnsucht, den Raum zu sprengen. Bei den Griechen durfte sich das Drama, wenn auch streng formalisiert, hinter Masken verborgen, unter freiem Himmel ereignen. Seit die Bühnenkunst in Häuser gezwängt wurde, holt sie sich die Natur, oft mit großem Aufwand (Karl-Ernst Herrmann) in diese, erweitert die Guckkästen durch Podien. Das Theater flieht aber auch gern aus den Repräsentationsbauten, zurück an die frische Luft (im Sommer), noch lieber aber in Hallen, Fabriken (Peter Steins „Faust“-Inszenierung fand in Wien im Meidlinger Kabelwerk statt).
Im Burgtheater soll nun der Hallen-, Baustellen-Charakter, das Provisorische der Welt nachgestellt werden: Konvention kreuzt Revolte, eine Quadratur des Kreises, die die Burg-Maschinerie schon bei Nitsch zum Stöhnen brachte. Wird auch das Publikum schwitzen? Hoffentlich, aber wenn nicht, macht es auch nichts. Der Weg ist das Ziel. Auch in der Kunst.