Christoph Schlingensief sucht am Wiener Burgtheater nach Antworten auf die großen Fragen. Sein neues Projekt „Area 7 – Matthäusexpedition” feiert am Dienstag dort Premiere
von J. Adorjan
FAZ: Über Sie weiß man viel – Apothekersohn, 1960 in Oberstorf geboren, katholisch…
…Nein, nein, Oberhausen, da haben Sie schlecht recherchiert. Und Provokateur natürlich, das ist manchen Leuten immer ganz wichtig.
FAZ: Enfant terrible, absolut. Sie haben Filme gemacht, Theater, haben 2004 in Bayreuth den „Parsifal“ inszeniert. Ihre nächste Premiere ist am Wiener Burgtheater. Was passiert hier am Freitag?
Es ist zunächst einmal keine Premiere, weil es kein Theater ist. Es ist eine „Expedition“, die am Dienstag, dem 17. Januar aufbricht. Auf Anfrage der Burg habe ich ursprünglich ganz automatisch an eine Inszenierung gedacht; mit „Sadochrist Matthäus“ hatte ich sogar schon einen Titel. Aber schon zum „Parsifal“ entstand in meinem Kopf die Idee, eine Form zu suchen, die Oper, Film, Theater und Aktion zusammenführt, die aber ganz bestimmt kein Theater mehr ist.
FAZ: Was ist es dann?
Es ist „Der Animatograph“, eine Installation, zu der man keinen Sicherheitsabstand einhalten muß, so wie im Museum. „Der Animatograph“ ist ein gefräßiger Organismus. Wenn man sagt, es ist Kunst, dann kappt man schnell alle Lebensadern, dann ist man ganz schnell wieder auf der „Kunst“-Bühne. Ein Animatograph lebt vom „mystischen Abgrund“. Genau deshalb ist es prima, daß die Installation im Burgtheater stattfindet, weil der Raum extrem aufgeladen ist, aber eigentlich schon weg ist. Werner Kraus, der in Harlans „Jud Süß“ fünf Klischeejuden gegeben hat, wird hier bis heute als Ikone verehrt, Hitler hatte seine Loge, auch wenn er nur einmal in der Burg gewesen ist, all diese Geister sind noch da, Max Reinhardt, Brandauer, aber auch Frau Müller, die Kassenfrau. Das Burgtheater ist ein Denkmal, so oder so, der Raum überprüft mich, nicht ich den Raum.
FAZ: Aber der Raum wäre genauso aufgeladen, wenn Sie hier ein normales Stück inszenieren würden. Was langweilt Sie am Theater?
Der Raum, den eine normale Inszenierung auflädt müssen Sie mir zeigen! Was mich langweilt, ist das Monopol des Betrachters. Am Theater sehe ich nur abgepackte Interpretationen, ein minutiös getimtes und zentimetergenau vermessenes Geschehen, das mit mir schon deshalb nichts mehr zu tun haben kann. Da strengen sich Leute an, so zu tun, als wären sie Hamlet, ein Regisseur hatte wahnsinnige Ideen und alles ist brandaktuell – deshalb sieht Maria Stuart jetzt bis Spielzeitende aus wie Susanne Osthoff. Das hat mich früher auch interessiert, das gebe ich zu. Aber mich hat immer schon viel mehr interessiert: Wer betrachtet mal den Betrachter? Mit dem „Animatographen“ habe ich einen Organismus geschaffen, der frisst, der sammelt, der wächst.
FAZ: Ich als Zuschauer habe im Theater immer Angst, daß sich der Scheinwerfer gleich auf mich richtet und ich zum Mitmachen gezwungen werde.
Das verstehe ich total, ich habe auch ganz große Angst. Ich gehe auch kaum ins Theater und wenn, dann verstecke ich mich in der letzten Reihe. Bei „AREA7“ im Burgtheater erstreckt sich die Installation vom Zuschauerraum über Vor- und Hinterbühne. Das ist ein Versuchsaufbau, ein ernsthaftes Angebot an die Autonomie des Besuchers. Man kann sitzenbleiben, man kann sich verstecken, man kann sich aber auch frei bewegen und zum Bestandteil der Expedition werden. Wir sprechen ganz klar die Empfehlung aus, die Reise zu wagen, rumzugehen, zu gucken.
FAZ: Ich beschreibe mal, was ich gesehen habe, als wir vorhin auf der Bühne waren: Das Geschehen findet nicht nur auf der Bühne statt, sondern auch im Zuschauerraum, es wächst da hinein, wächst hoch hinauf; es gibt vier Drehbühnen, lauter verschiedene Elemente, auf die Filme projiziert werden – Wellblechhütten, eine große Scheibe, auf der Elfriede Jelinek zu sehen ist, die den Text liest, den sie für dieses Projekt geschrieben hat, in der Mitte steht ein Schiff. Alles wirkt sehr assoziativ. Sie bringen 9/11 und Beuys zusammen, Odin und Wotan, Afrika und Island. Das Ganze wirkt ein bißchen als wäre man im Kopf von Christoph Schlingensief.
Sie sind im Innern einer Kamera, die die Bilder der vorangegangenen Projektteile in Island, Neuhardenberg und Namibia gefressen hat und hier in neuen Projektionen und Assoziationen wieder ausspuckt. Es gibt keine Bedeutungen, keine Interpretationen mehr, die ich einem Publikum vorschreibe. Der Text, den Elfriede Jelinek so unnachahmlich liest, ist frei von Betonungen und diesen notorischen Akzentuierungen eines Schauspielers. Der Text ist eine Litanei, die immer wieder Sinnbruchstücke auswirft, so als würde man eine Tageszeitung ohne Punkt und Komma drucken und dann noch durch einen Zufallsgenerator schicken. Es ist aber auch noch mehr, weil ein obsessives Herz darin pocht. In der bildenden Kunst, mit der ich seit zwei Jahren mehr zu tun habe, gibt es Leute, die ausschließlich ihre Fußnägel verfilmen. Da geht es nur um den Künstler und seinen Popel an der Wand. Das ist mir vollkommen fremd. „Der Animatograph“ enthält Elemente, die einem bekannt vorkommen könnten, die einem in gleicher oder ähnlicher Form vielleicht schon einmal begegnet sind: Schrödingers Katze, Beuys oder Dieter Roth, dessen Kunst in einer ganz anderen Zeiteinheit stattfand. Melancholie, Formen von Tragik bis hin zur Depression, die in den Beschreibungen meiner Person oft völlig ausgespart werden, sind dabei eine ganz starke Antriebsfeder.
FAZ: Es wirken mit Irm Hermann, die Fassbender Ikone, Robert Stadlober, Patti Smith. Wie kommen die zu Ihnen?
Es wirken auch Karin Witt, Klaus Beyer und Horst Gelonneck mit, Idealtypen des autonomen Installationsbetrachters. Patti Smith habe ich 2005 bei der Premierenfeier des „Parsifal“ kennengelernt. Ich kam etwas später, und jemand sagte, Patti Smith sei da. Ich habe gar nicht richtig reagiert, dann sah ich sie irgendwann: Die langen grauen Haare, die ziselierte Figur – da habe ich erst realisiert, oh, das ist sie ja wirklich. Es war auf den Tag genau der Abend, an dem ein paar Jahre zuvor ihr Vater gestorben war. Sie hatte einen Trauerflor um den Arm, den machte sie ab und schenkte ihn mir. Auch in dieser Melancholie lag eine Verwandtschaft. Anschließend haben wir Mailadressen ausgetauscht.
FAZ: Im Sommer haben Sie in Namibia einen Film gedreht, „African Twin Towers“, da war sie auch mit dabei.
Ja, ich habe nicht geglaubt, daß sie kommt, aber dann war sie plötzlich da. Jetzt richtet sie auch schon mal Grüße von Bob Dylan aus, der weiß also auch schon von unserer animatographischen Expedition. Irm Hermann habe ich 1987 kennengelernt, als ich mit ihr ein kleines Fernsehspiel fürs ZDF gedreht habe. Sie leidet hier Höllenqualen, weil sie keinen Text hat. Aber auch ihre Verzweiflung lädt die Installation ungemein auf.
FAZ: Sie haben sich oft Themen gesucht, an die sich sonst keiner rantraute – Asylanten, Arbeitslose, Behinderte, Neonazis. Gibt es hier auch ein Thema, ist das hier Religion?
Auch wenn das alles hier sehr voll wirkt, so glaube ich doch, daß es ein Versuch der Entrümpelung ist; die Illusionen und Selbsttäuschungen, die man mit sich rumschleppt, um sich notfalls durch sie zu legitimieren, das Vaterunser genauso wie das büßende Wippen an der Klagemauer.
FAZ: Das wollen Sie relativieren?
Überhaupt nicht, ich bin diesen Verbindungen auf der Spur. Anfang der Neunziger hatten wir noch diese massiven Umwälzungen, die sich beinahe mit Gewalt bahnbrachen. Mein Gott, was waren wir damals noch aufgeregt, wenn irgend jemand was gesagt hat. Heute sind wir immunisiert, man kann ja stundenlang reden, und es ist doch völlig egal. Ich bin für klare Verhältnisse. Anfang der 80-er Jahre haben Thomas Meinecke und ich immer gesagt: Wer sagt: „Das ist so scheiße, daß es schon wieder gut ist“, hat nichts begriffen. Es gibt ganz klare Ansagen, und es gibt klare Verhältnisse, und ich will eine Klärung haben, was das Universum treibt und wie es uns treibt.
FAZ: Und das versuchen Sie, mit diesem Projekt herauszufinden?
Man kann das als Denkmaschine begreifen oder als Komposition, die aus vielen Elementen meiner bisherigen Arbeit besteht, und die sicher auch mit einer Spur Größenwahn daherkommt. Ich will das Kleine, aber im Großen.
FAZ: Ist Ihre Arbeit wie die Welt außen herum auch ein bißchen unpolitischer als früher?
Im Sinne dessen, was heute noch unter Politik firmiert, bestimmt. In meinen Augen aber ist es sogar wesentlich politischer, weil es existentieller ist. Es geht um die Frage nach Entscheidungen: Für welche Richtungen entscheide ich mich im Leben, also wenn das nicht politisch ist!
FAZ: Würden Sie sagen, die Erfahrung in Bayreuth hat Ihre Arbeit verändert?
Ich habe mich früher sehr schnell berufen gefühlt, hierzu oder dazu noch etwas zu machen. Ich hab sehr oft das Bild zum Text, das Bild zum Film geliefert. Hier und jetzt wachsen die Bilder aus sich selber heraus. In meiner Installation werde ich selbst zum Augen- und Ohrenzeugen ungezählter Verbindungen und Zufälle. Es geht nicht um die Verfilmung meiner Zehennägel.
FAZ: Die Ergebnisse sind weniger eindeutig.
Wenn Sie Eindeutigkeit wollen, sind Sie hier an der falschen Adresse. Ich kann komponieren, ich kann Dinge bewegen, ich nehme Kräfte auf, aber ich werde auch gerne bewegt. Und das geschieht nicht, wenn ich hingehe und sage, ich bin der Betonklotz und mache Ihnen einen Reflexionsangebot, daß weder Sie noch sonst irgend etwas in Bewegung bringt. Wer Bewegungen will, soll bei sich selbst anfangen.
FAZ: Manchmal hatte ich bei Ihren Arbeiten den Eindruck, daß Sie ganz klar beginnen und sich dann gegen Ende hin etwas verzetteln, vom hundertsten ins Tausende kommen, daß sich irgendwie die Form verliert. Ist das Absicht, oder würden Sie sagen, daß ist eine Schwäche?
Gar nichts von beiden. Wäre es Absicht, dann wäre das ein Armutszeugnis; würde ich sagen, es wäre Schwäche, dann wäre das Koketterie. Es ist so, daß ich kein Projekt anstrenge, von dem ich nicht wirklich überzeugt bin, daß es mich selbst noch überraschen kann und sich mittendrin eventuell vollkommen die Richtung ändert. So war das auch mit „African Twin Towers“ in Namibia. Ich wollte ihn mit der „Götterdämmerung“ enden lassen, hatte alles vorbereitet; Patti Smith rannte durch die Wüste, Irm war da, Robert Stadlober war da, Karin und Klaus in Position, und es waren nur noch wenige Minuten bis zum Sonnenuntergang. Ich schaltete die Kamera ein, die Sonne geht unter, und in dem Augenblick, in dem ich enden will, fängt der erste schwebende Ton vom „Rheingold“ an. Also da, wo eigentlich Schluß sein soll, macht sich das Material selbständig und fängt wieder von vorne an. Dieses auflösende Moment, in dem alles auseinanderzudriften zu scheint, aber gerade dadurch zusammenwächst, war prägend.
FAZ: Sie sollen 300 Stunden Material gedreht haben.
180 Stunden sind genug! Ein Berg an Material ohne Chronologie, dessen Handlung der Vorstellungskraft des Zuschauers überlassen ist, wie bei einem Film von Stan Brakhage. Also vergrabe ich meine Version des Films am Ende im Meersand und es wird ihn so nie wieder geben. Trotzdem war dieser Versuch eines Films im Rahmen des „Animatographen“ sehr wichtig, weil er bewiesen hat, daß es die Kunstform nicht gibt. Wie hätte ich also einen Film machen sollen? Wie konnte ich auf die Idee kommen, im Burgtheater Theater zu machen? Mit dem „Animatographen“ hat sich in meiner Arbeit eine große Freiheit entwickelt. Er ist eine Schleuder, eine Schnittmaschine, die nicht ich reguliere, sondern die mich reguliert. Er ist das Kino der Zukunft.
FAZ: Den Animatographen sollten wir vielleicht erklären. Sie waren damit in Island, Neuhardenberg, Namibia. Das ist eine Drehbühne, auf der Leinwände und Flächen sind, auf die Filme projiziert werden. Der Betrachter tritt hinein und wird damit Teil der Projektion. Er sieht Bilder, Bilder sehen ihn. So ungefähr?
Ich drehe mich im Kreis, und die Filme kommen und schneiden sich selber. Der Raum wird zur Zeit, die Zeit zum Raum. Es ist ein Prozess. Ich habe Zeit. Es gibt keinen Anfang und kein Ende, an dem eine Frohe Botschaft steht, wie Sie es vielleicht wünschen würden.
FAZ: 2000 haben Sie für irrsinnigen Wirbel gesorgt, als Sie in Wien einen Container aufstellten, in dem Asylbewerber lebten wie in der „Big Brother“-Show. Der Gewinner könnte bleiben, alle anderen würden abgeschoben, hieß es. Das war sehr klar.
Freut mich, daß es Ihnen gefallen hat. Aber ich habe damit weder die politische Situation in Österreich verändert noch einem Asylbewerber die Aufenthaltsgenehmigung verlängert. Das ist doch genau die theatrale Illusion, daß man Klarheiten herzustellen hat, um an Lösungen zu kommen. Die große Kraft liegt aber in der Unklarheit, in der Gewißheit, daß es keine Lösungen gibt, sondern Transformationen und Formveränderungen. Ich habe mit „Bitte liebt Österreich“ letzten Endes einen schnellen Brüter entwickelt, der auch mich überrannt hat. Da waren alle so unendlich glücklich, weil das so ein „gerechtes“ Unternehmen war: Der böse Haider, der blöde Schüssel; „Theater heute“ war völlig aus dem Häuschen, und der Christoph war so toll. Natürlich sehnt man sich nach solchen Momenten, aber sie passieren nicht allzu oft. Und man wird doch von mir nicht allen Ernstes verlangen, daß ich so etwas am Fließband produziere, um Mißstände aufzuzeigen und die Welt zu verbessern. Bei mir ist oft ein ganz konkreter Anlaß der Aufhänger, und dann setzen das Leben, die Bewegung, die Verwandlung und die Transformation ein. Das ist kein Freibrief, alles zu machen. Aber ich will einen Schritt weiterkommen. Und ich will diese Freiheit genießen, die da langsam gewachsen ist, weil sie viel ergiebiger ist, als sich in Kunstkorsette schnüren zu lassen. Man muß noch atmen können.
FAZ: Sie suchen gerade nach einer neuen Form?
Im „Animatographen“ komponiere ich Bilder. Darin bin ich frei. Was ich mache, hat mit Kunst zu tun, mit Film, mit Theatralität, gleichzeitig aber mit der Öffnung dieser Formen und ihrer Ausdehnung. Das Thema ist Unerlösbarkeit. Warum also die saubere Lösung finden, wenn danach nichts mehr kommt? Ich habe das gute Gefühl, es gibt keine Erlösung. Das ist für mich nicht fatalistisch, das ist ein ganz großes Ja zum Leben.