„JEDER IST EIN OBSESSIVER HERD“ (newsclick.de)

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Christoph Schlingensiefs freudiger Antritt an der Braunschweiger Kunsthochschule

Von Harald Likus

Und nun schickt uns der liebe Gott/
den Schlingensief vom Kohlenpott.

Nein, es wurde an sich nicht gereimt. Es wurden auch keine Salutschüsse abgefeuert. Doch spürbar war es: Stolz, freudig, fast übermütig begrüßte die Braunschweiger Kunsthochschule ihren Gastprofessor. Christoph Schlingensief, geboren 1960 in Oberhausen, lehrt „Kunst in Aktion“ – und hielt gestern Abend seine Antrittsvorlesung.

Ein ausgefeilter Text möglichst trocken vom Blatt gelesen, war kaum zu erwarten. Schlingensief kochte. Er garte und begoss einen Putenbraten im Römertopf und gab einen ebenso chaotisch-kuriosen wie witzigen, auch mal plötzlich erschreckenden Einblick in seine unnachahmliche multimediale Arbeit.

Wie diese Arbeit beschreiben? Hochschul-Präsidentin Barbara Straka griff auf das Wort „Gesamtkunstwerk“ zurück, sprach über den „Lebenskunst-Begriff“, erwähnte den „genialen Dilettantismus“. Jedenfalls geht’s um theatrale Aktionen mit politisch-sozialem Pfeffer.

Der Film- und Theatermacher, Aktionist und Agitator lud zur gespielten Talk-Show mit verkleideten Gästen, spielte Videos ein und ließ Wagner-Musik durch die Hochschule donnern. Ausführlich widmete er sich seiner Bayreuther Parsifal-Regie.

Die erste Aktion mit Braunschweiger Studenten entstand im Wiener Burgtheater, berichtete Schlingensief bei einer Pressekonferenz am Nachmittag.

Die Verfremdung, wohl auch Verulkung des Theatertempels wurde mit viel Aufwand betrieben. Einen anarchistischen Parcours, in dem die Menschen mit Torf beworfen wurden, verordnete Schlingensief den Wienern. Patti Smith palaverte, Behinderte machten mit, und eine Hauptrolle kam dem „Animatographen“ zu, dem Seelenschreiber. Aufgeladen nämlich mit Wiener Energie, soll der Kasten weiter nach Nepal verbracht werden.

Diese Erkenntnisse verdanken wir der HBK-Studentin Dorothea von Stillfried. Im vierten Semester studiert sie Freie Kunst und findet es überaus anregend, mit Schlingensief zu arbeiten. „Mich fasziniert, dass seine Sachen eine Bezogenheit auf das politische System haben“, sagt sie. „Es war toll, das in Wien. Auch diese Anarchie: Der ist wirklich ins Burgtheater gegangen und hat gesagt ,Ich mach’ jetzt hier, was ich will’.“

Was Wunder also, dass die Kunsthochschule gestern von Journalisten belagert wurde: Mit Charme und Entschlossenheit, scheinbar angstfrei und ohne jeden Dünkel setzt er die Zeichen, die er setzen will. Mittendrin, das ist ihm wichtig. „Ich finde, freie Kunst heißt nicht, ein Leben lang seine Zehennägel abzufilmen“, sagte er gestern.

Und damit’s nicht langweilig wird, spuckte er noch ein paar Sprüche aus. „Jeder ist ein obsessiver Herd“, sagte er, pries die „Zellteilung als politisches System“ und forderte: „Das Monopol des Betrachters muss zerstört werden.“

Dies war auf die Kunst gemünzt. Aber auch zu Braunschweig fiel ihm rasch was ein. „Ihr verschandelt ja die Innenstadt durch ein Kaufhaus, obwohl dabei der Einzelhandel kaputtgeht. Wir in Oberhausen haben das hinter uns.“ Oder auch: „Vom Theater hier hört man ja wenig.“ Oder auch: „Ich habe die TU gesehen. Da freut man sich umso mehr, an dieser Hochschule zu sein.“

Mittwoch, 17.5.06