Demokratie ist ein Wäschetrockner

Veröffentlicht am Autor admin

Herr Fischer? Herr Westerwelle? Lafontaine? – Christoph Schlingensief hält sie alle für verachtenswert

Planet Internet

Chemnitz. Sein Polit-Theater kennt kein Pardon. Christoph Schlingensief, Berufsprovokateur, Jahrgang 1960, prägte mit seinen Spektakeln und Aktionen die politische Kultur jenseits der Parlamente. Jakob Buhre hat mit ihm gesprochen.

Freie Presse: Würden Sie jungen Erwachsenen raten, wählen zu gehen?

Christoph Schlingensief: Der erste Teil meines aktuellen Projekts „Der Animatograph“ trug den Untertitel „Destroy Parliament“ (Zerstöre das Parlament). Der Punkt ist: Ich glaube nicht an unser demokratisches System. Ich glaube, dass das eine große Lügengeschichte ist. Das, was wir als Demokratie ausgeben, ist eigentlich ein Täuschungsmanöver, ein Wäschetrockner, der einfach uns als Partikel aufnimmt, in den Wind der Gewalten schleudert. Mal bläst der eine mit seiner Windmaschine, mal der andere. Und natürlich will jeder, dass Papa oder Mama Staat einem jede Verantwortung abnimmt, dass die Regierung alles regelt, dass der jährliche Mallorca-Urlaub im Grundgesetz garantiert wird und Sorgen vom Bundespräsidenten verboten werden. Da liegt schon das Grundproblem: Wir lassen uns in Panik versetzen, weil eine Bombe explodiert, aber nicht dadurch, dass unser Staat still und heimlich implodiert.

Freie Presse: Ihrer Ansicht nach gibt es also auch keine ernst zu nehmenden Politiker mehr?

Schlingensief: Wer sollte das sein? Herr Fischer? Herr Westerwelle? Nein, ganz im Gegenteil, verachtenswert. Wie soll es ernst zu nehmende Politiker geben, wenn ihre Politik die Menschen nicht ernst nimmt? Lafontaine macht aus seiner 2-Millionen-Villa vor Saarbrücken heraus gegen Armut mobil. Wenn Fischer vor seinen Jung-Grünen spricht, dann kramt er vorher seinen 68er-Pulli aus der Altkleidersammlung, weil er mit seinem maßgeschneiderten Außenministeranzug nicht landen kann? Das sind so billige, durchschaubare Nummern.

Mir fehlt im Moment ganz extrem die Motivation, mich diesen Leuten noch auszusetzen, geschweige denn, mich ihnen zu nähern. Wenn ich sie dann kennenlernen kann, wie vor einiger Zeit einmal Wolfgang Schäuble, dann ist das interessant, keine Frage. Diese Leute haben ihre Leiden und Schäden, die kein Fernseher überträgt – die Enttäuschung Kohl, das Attentat, das Mobbing durch Kanzlerin Merkel … Schäuble hatte etwas Melancholisches, und das hat mich sehr mit ihm verbunden. Ich bin im Moment eher auf der melancholischen Bahn, ich brauche kein Megafon mehr. Ich brülle nicht mehr durch die Gegend, wie die Sache zu laufen hat. Ich mag Leute lieber, die sich in den Arm nehmen und zusammen mal ein Glas Tränen trinken. Das finde ich im Moment naheliegender.