Filmkritiker Enno Patalas über die neue Schlingensief-DVD-Edition in der FILMGALERIE451
Noch hat sich keiner an eine Schlingensief-Monographie gewagt. Und seine Filme hat man im Kino lange nicht mehr gesehen. Hat es überhaupt schon eine Schlingensief-Retrospektive gegeben? Dafür können wir uns aber demnächst mit seinen neun Kinofilmen auf DVD unsere eigene machen. Dazu eine als Einführung: „Christoph Schlingensief und seine Filme“. Da täuscht nur der Titel: Gezeigt wird nicht eins und ein anderes, sondern eins im anderen. Sein Leben in seinen Filmen, seine Filme in seinem Leben. Seine Selbstdarstellung wird auch gleich zu einem Film – zu einem Schlingensief-Film.
Aus dem Kino geboren. Man hat den Eindruck: Er filmte, bevor er lesen und schreiben konnte. In „Die Schulklasse“, bei dem er die Regie noch an einen Erwachsenen delegiert, spielt der Achtjährige einen autoritären Lehrer, der eine Blamage erlebt. Das wird später sein Programm: komisch distanzierende Imitation der Macht, vor der man sich fürchtet, die man haßt, zumal man die Neigung, es ihr gleichzutun, in sich spürt. „Mein erster Film“: elf Minuten auf Super-8, munter verwackelte Handkamera, ausgelassenes Spiel, Musik, komplettes Kino. Sein helles Stimmchen kommentiert emphatisch die schüttere Handlung. Erst ein kleiner Krimi, dann „Allerlei Sachen“, eine Nummernrevue. Er weiß von Anfang an: schlüssige Geschichten braucht das Kino nicht, nur den Gestus des Erzählens und pathetische Auftritte. Christoph Maria tanzt, strampelt, wälzt sich am Boden. „Bitte macht mir das nach.“ So hat er es weiter gehalten. Die Prominenten, mit denen er später dreht – Udo Kier, Tilda Swinton, Helmut Berger -, finden es entweder lustig, wie er ihnen etwas vormacht, oder sie halten es nicht aus. „Ich bin ein maßlos schlechter Schauspieler.“ Mit seinem acting out treibt er sie ihrerseits in pathetische Reaktionen.
Hollywood ist eine Inspirationsquelle für den Gymnasiasten, der sich „Regisseur“ nennt – „Mit zehn hat der Wahn angefangen“ -, Comics, Groschenheftchen sind andere bei „Das Totenhaus der Lady Florence“ und „Das Geheimnis des Grafen Kaunitz“. Nur keine Psychologie! Schlingensiefs Kino ist unverschämt von Anfang an. Er spannt die Bundesbahn ein, darf eine Jagd über Eisenbahndächer drehen, stehende natürlich, aber das camoufliert die Regie. „Mensch Mama, wir dreh’n ’nen Film“ macht zum ersten Mal die Produktion zum Thema. Die Dreharbeiten entarten zum Slapstick, der Rollstuhl der Mama gerät auf die schiefe Bahn, sie landet im Heu.
Als er den Film einem Fernsehgewaltigen zeigt, sagt der, soviel sei klar, der Regisseur werde nie einen Menschen lieben. Das trifft den Siebzehnjährigen tief – immer wirken die Filme, die Reaktion, auf die sie treffen, zurück auf ihn, sein Leben, seine Filme. Mit dem nächsten will er beweisen, daß der Mann unrecht hat. Das gibt es später wieder – nach dem Faschismus-verdächtigen „Menu total“ kommt „Egomania“ den Humanisten entgegen.
Nach dem Abitur bewirbt er sich bei der Münchner Filmhochschule, wird abgelehnt, dreht seinen ersten 16-mm-Film, hospitiert bei einem Literaturzirkel, geht ins Kino, drei-, viermal am Tag. Dabei kommen heraus, 1983, er ist 23, „Phantasus muß anders werden“ und „What happened to Magdalena Jung“. Dessen Untertitel: „Die Ungenierten kommen“. Ungeniertheit – genauer Desinvolture -, zitiert der Film Ernst Jünger, „ist Wuchs und freie Gabe und als solche dem Glück oder der Zauberei weit eher als dem Willen verwandt“. Magdalena Jung mißachtet die Gesetze der Schwerkraft, springt und fliegt, „das Tier als Vorbild und der Film als Wunderding“. Video heißt nicht, ich sehe, video heißt, ich fliege, sagt Andy Warhol.
Schlingensief erzählt, wie bei der Vorführung von „Tunguska – Die Kisten sind da“ – sein erster Kinofilm komplettiert demnächst die DVD-Edition – beim Festival in Hof der Vorführer beim Bild von durchschmorenden Filmstreifen die Vorführung unterbricht, im Glauben, der Filmstreifen sei tatsächlich durchgeschmort, und beleidigt die Kabine verläßt, so daß der Filmstreifen später wirklich ungestört durchschmoren kann. Der Film macht sich selbständig – das passiert Schlingensief ständig.
In schneller Folge, Mitte der achtziger bis Mitte der neunziger Jahre, entstehen seine notorischen Hauptwerke, „Menu total“, „Egomania“, „Mutters Maske“, „100 Jahre Adolf Hitler“, „Das deutsche Kettensägemassaker“, „Terror 2000“, „United Trash“, „Die 120 Tage von Bottrop“. Schlingensief erzählt, wie immer ein Film den anderen provoziert, wie ihm „Menu total“ und die heftigen Reaktionen beim Berlinale-Forum die Trennung von der Freundin, dafür die Zuneigung von Tilda Swinton und den Zuspruch von Udo Kier eintrugen, mit denen er dann „Egomania“ dreht, auf einer einsamen Hallig im Schnee. Immer wieder entrückt er sein Team für die Dauer der Dreharbeiten der Normalität, auf daß Wahrscheinlichkeit nicht ihr schmutziges Haupt erhebe. Für „100 Jahre Adolf Hitler“ sperrt er sie in einen Bunker in Mülheim/Ruhr, für „Terror 2000“ in eine trostlose NVA-Kaserne in Massow/Brandenburg, für „United Trash“ entführt er sie bis Afrika. „Transformationskörper“ nennt er seine Filme. Sie entstehen in der Isolation, entwickeln sich souverän, er schaut zu, greift ein wenn nötig oder läßt es bleiben. Bei der Entstehung von „Die 120 Tage von Bottrop“, in dem Film ebendieses Titels, ist er ostentativ abwesend.
Immer wieder inspiriert die Beschäftigung mit dem Kino der anderen das seine – manchmal um mehrere Ecken: Dietrich Kuhlbrodt (Oberstaatsanwalt, Filmkritiker, Mitglied seiner Darsteller-Mannschaft) hat ihn darauf hingewiesen, daß Fassbinder, dem Schlingensief in einer Drehpause zugeschaut hat („Hab ich noch so als Film im Kopf“, die unappetitliche Szene), weniger von Douglas Sirk, wie er behauptet, als von Veit Harlan inspiriert sei; darauf schaut sich Schlingensief dessen „Opfergang“ an – man muß ihn sehen-hören, wie er aus dem Binding-Dialog zitiert: „Jeden Sonntag zur selben Zeit geistige Nahrung“ – und macht sein eigenes Remake davon. „Mutters Maske“, findet das katholische „lexikon des internationalen Films“, „sei eine unfreiwillig komische schwarze Tragikomödie“. Aber da täuscht sich der Rezensent, unter dem Grauen lauert bei Schlingensief immer der Witz, und umgekehrt, sie unterlaufen und steigern einander, bis sie umkippen. Er hat den bösen Blick, sieht allenthalben Krankheitsbilder, spritzt gegen die Krankheit der Normalität etwas Gift („Ich bin Sohn eines Apothekers“) und viel Galle: Er hält sich nicht auf mit Satire und Karikatur, was hieße, sich auf Symptome zu fixieren, sondern schafft, sagt er, ein komisches Gemenge.
Schlingensiefs Kino ist ein Kino der Grausamkeit. Zeichen, die Verbrennende machen auf dem Scheiterhaufen, sagt Artaud. In dem frühen „Phantasus“-Film redet Schlingensief sich selbst in Rage, schleudert irre Ketten von Assoziationen heraus, schreit. Wer schreit, hat recht. „United Trash“, der Titel sagt es, ist selbst gebaut wie eine solche Assoziationskette, eine „grell-hysterische Groteske“ mit abstoßenden „Sex- und Ekelszenen“, einen „Rundumschlag“ nennt ihn das „lexikon“. Das kommt irrsinnig komisch heraus, wenn Schlingensief erzählt, wie Barbara Valentin, nach einem vermeintlichen Nervenzusammenbruch vor Drehbeginn, sich dem von der Versicherung entsandten Psychologen eröffnet; sie erzählt ihm ganz einfach – erzählt Schlingensief -, was der Figur, die sie spielen soll, im Verlauf der Filmhandlung widerfährt – als sei das alles ihr passiert. Der Psychologe nimmt das für die Ausgeburt eines schwer gestörten Hirns – also trägt die Ausfallversicherung die Kosten für Valentins Ersatz, Russ Meyers Kitten Natividad.
In der Firma von Mack Sennett, dem „King of Comedy“, Erfinder der Slapstick Comedy, gab es den Wildie, den Wilden Mann, der die Aufgabe hatte, bei Drehbuchkonferenzen dazwischenzugehen, Emotionen und Ideen freizusetzen, „ein Mann ohne jeden Verstand, nahezu unfähig, was ihm durch den Kopf ging, in Worten mitzuteilen, aber mit einer hemmungslosen Vorstellungsgabe“. Im deutschen Kino, im Deutschland von 1990 gibt Christoph Schlingensief den Wildie. Er plündert mit wilder Emphase den von den Historienfilmern gehegten Anekdotenschatz aus den letzten Tagen der Reichskanzlei („100 Jahre Adolf Hitler“); er interpretiert die Vereinnahmung der DDR durch die Bundesrepublik als Akt des Kannibalismus („Das deutsche Kettensägemassaker“); er beschwört das Zusammenwirken von Gewaltkriminalität, Mediengeilheit, Fremdenhaß und offizieller Beschönigung („Terror 2000“). „Eine tabulose, die Grenzen der Geschmacklosigkeit oft überschreitende Groteske, die aber hinter ihren ,schmutzigen Bildern‘ provokative Wahrheiten äußert“ – was zu einem dieser Filme gesagt wurde, resümiert die veröffentlichte Meinung über jeden von ihnen. Dabei besteht ja die provokative Wahrheit gerade darin, daß in „sauberen“ Bildern, geschmack- und respektvoll, die veröffentlichte Heuchelei daherkommt. Schlingensief politisiert das Kino nicht, wie vermeintlich Eichinger oder Weingartner, er ver-filmt die Politik.
Dem Neuen Deutschen Film der sechziger bis achtziger Jahre hat er angehört als jüngster Exponent seines anarcho-melodramatischen Flügels, nach und neben Vlado Kristl („Film oder Macht“), Werner Schroeter und Rosa von Praunheim, dem Fassbinder von „Satansbraten“, Achternbusch, einige Marginale wären noch zu nennen. Den „letzten Neuen Deutschen Film“ hat Schlingensief „Die 120 Tage von Bottrop“ genannt, der jetzt als vorletzter Film in der DVD-Edition der Filmgalerie 451 erschienen ist, mit dem er sich, mit erst 33 Jahren, aus dem deutschen Kino verabschiedet hat – danach „Chance 2000“, das Wahltheater, „Internationales Pfahlsitzen“, der Behinderten-Wettbewerb „Freakstar 3000“ – ihn dokumentiert eine weitere DVD.
Die „120 Tage“ geben sich als Drehbericht, zu besichtigen ist die Fehlgeburt ebendieses Films an einem einzigen Tag im Oktober 1996. Die Schauspieler der Fassbinder-Truppe spielen sich selbst, ebenso Helmut Berger, als Star des Films, unterwegs zum Drehort. Drehort ist die Großbaustelle Potsdamer Platz – die Baugrube von damals erscheint einem, sieht man den Film heute, als Grabstelle. Der Regisseur sah sich zu dieser Zeit dem Verdacht der Verunglimpfung einer Verstorbenen ausgesetzt – zu Unrecht, aber er schien ihn nahezulegen. Sein Film ist ein Akt der Nekrophilie, liebevoller Leichenfledderei, die gefledderte Leiche des deutschen Films, mit seinen Toten – Fassbinder, Kurt Raab, Alfred Edel – und Untoten – von (damals noch) Riefenstahl bis zu den mit dem jüngsten deutschen Filmpreis Ausgezeichneten.
Schlingensief hatte Förderung beantragt für seinen neunten Kinofilm, aber die Förderer wollten ein Drehbuch lesen – als wäre in den acht voraufgegangenen nichts zu sehen. Vertrauen auf der Basis erwiesener Kreativität, wovon in den siebziger Jahren Straub, Herzog, Schroeter, Fassbinder, Achternbusch und andere profitierten, gibt es nicht mehr, seit überall die neu ordinierten Dramaturgen das Sagen haben. Daran hat sich in den zehn Jahren seither nichts geändert. „Die arbeiten ja nicht nach vorn, die arbeiten nach hinten, die wollen etwas wie ein ständiges Rückspiel- oder Wiederholmanöver“, sagt Schlingensief – diese Erfahrung teilt er mit Überlebenskünstlern wie Klaus Lemke und dem neuen Meister im Hindernisrennen Romuald Karmakar.
Schlingensief sieht sich und andere, die weitergemacht haben, unter einer großen Welle. „Die wird uns nicht wegschwemmen, an einem Nebenstrandgebiet werden wir auftauchen und unsere Netze aufstellen, da werden dann alle angeschwommen kommen, und wir werden sie viel freundlicher aufnehmen, als die zu uns waren.“ Ein weiterer Schlingensief-Film, vorerst als Entwurf, auf DVD.
Enno Patalas war langjähriger Leiter des Münchner Filmmuseums.
Text: F.A.Z., 25.07.2006, Nr. 170 / Seite 35