Der Kölner Stadtanzeiger zu den diesjährigen Bayreuther Festspielen
Bayreuth ist Provinz. Aber Bayreuth ist auch Kultur, die übers Wagner-Spektakel hinausreicht. Vielleicht würde Köln sich glücklich schätzen, so viele Gedenktage auf sich zu versammeln wie Bayreuth im Sommer 2006. Vor 200 Jahren wurde hier Max Stirner, der Prediger des Egoismus, geboren. Vor 130 Jahren inszenierte Richard Wagner die Gesamt-Uraufführung seines „Ring des Nibelungen“. Zehn Jahre später starb Wagners stets hilfreicher Schwiegervater Franz Liszt in Bayreuth, vor 80 Jahren tat der Arbeiterdichter Max von der Grün seinen ersten Schrei in der Wiege einer Bayreuther Dienstmagd. Und vergessen wir nicht den „Jahrhundert-Ring“ des französischen Produktionsteams um Patrice Chéreau und Pierre Boulez, der zum ersten Mal politischen Zündstoff auf der Bayreuther Bühne explodieren ließ.
Für Boulez (82) ist das Kapitel Bayreuth nun abgeschlossen. Zu Wagner falle ihm nichts Neues ein, hat er verlauten lassen; so übernahm Adam Fischer in diesem Jahr die musikalische Leitung des „Parsifal“. Er sucht das musikalische Heil nicht mehr im flüssigen, klangfunkelnden, sprachnahen Duktus, sondern in der „Bühnenweihe“, wie sie der Untertitel dieses seltsamen Solitärs der Opernbühne verkündet. Schon im Vorspiel schwenkt Fischer die Weihrauchkessel, dirigiert zeremonielle Tempi, setzt überall edle Farben mit dem Pastellstift, stellt die Sänger mit bedeutungsschwangeren Pausen und langen Bögen auf manche Probe. Anders als Robert Holl, der den Gurnemanz mit sonor-nasaler Würde singt, kann Alfons Eberz die Breite nach einem schönen zweiten Akt nicht durchstehen. Alexander Marco-Buhrmester gibt dem Amfortas zumindest stimmlich die schmerzliche Dichte, die Fischer im Orchestergraben durch Weichzeichnung beschönigt. Evelyn Herlitzius hat sich von der Brünnhilden-Partie auf die Kundry versetzen lassen – eine sinnige Entscheidung, die ihrer gestalterischen Präsenz und dem Umfang ihrer beweglichen, metallisch gehärteten Stimme entgegenkommt.
Vor allem ihre Rolle ist vom Regisseur Christoph Schlingensief neu profiliert und „islamisiert“ worden. Neben den bisherigen Videos von Schlingensief-Aktionen flimmern jetzt auch arabische Schriftzeichen über die Szene: die Übersetzung einer Passage aus Friedrich Hölderlins Briefroman „Hyperion“, wo die Rede ist vom „Trieb, unendlich fortzuschreiten, uns zu läutern, uns zu veredeln, zu befreien“. Mit diesem Programm zeigt auch Schlingensief in verwirrender Bilder- und Symbolflut den „Parsifal“ als Weg zur Versöhnung der Kulturen – und zum Licht, in das die Hauptfiguren am Ende schreiten.
Die Publikumsreaktionen auf den Heilslehrer aus Oberhausen waren, wie in den vergangenen Jahren, wütende Proteste. Die Festspielleitung hat schon die Konsequenzen gezogen und wird Schlingensiefs ungeliebte Produktion nach 2007 absetzen, ein Jahr früher als üblich.
Dasselbe Schicksal dürfte die äußerst spartanische, aber weniger provokante Inszenierung von „Tristan und Isolde“ kaum erleiden. Viel hat Christoph Marthaler in diesem Jahr nicht geändert – doch die Gestik scheint intensiver. Peter Schneider führt den Taktstock: gekonnt, aber nicht raffiniert, klanglich schwelgerisch, aber oft zu robust und ohne den unwiderstehlichen, glühenden Sog, den die Partitur fordert.
Und man muss den Tristan von Robert Dean Smith bewundern, wie er seine eher schlanke, feine und intelligent geführte Stimme souverän über den Schwall aus dem Graben führt. Schon Kwangchuoal Yuon (Marke) und Petra Lang (Brangäne) heben das ansonsten durchwachsene Sängerniveau auf dem Hügel. Doch nur Nina Stemme versteht es mit ihrem frei strömenden Sopran, der Wärme im Mezzoregister, den leuchtenden, nie forcierten Höhen wirklich glaubhaft zu machen, was Isolde am Ende verliert. Dem Publikum zum höchsten Gewinn.
Quelle: Kölner Stadtanzeiger vom 4.8.2006. VON M. STRUCK-SCHLOEN.