»Kaprow City« von Christoph Schlingensief an der Volksbühne
Von Hans-Dieter Schütt
Ich starre das Huhn im Käfig an, und ich sage mir, dazu müsse mir jetzt nichts weiter einfallen, links neben mir sitzt ein Mann, der etwas unbeholfen schaut, so, als fiele ihm leider nicht ein, wie er verhindern könne, immer nur ein Huhn anstarren zu müssen, rechts neben mir sitzt auch ein Mann – zu dem mir nur einfällt, dass er so starrt wie das Huhn, irgendwie sitzen wir auch in einem Käfig, aber auf Bänken, nicht auf Stangen, der Mensch ist eben doch kein Huhn. Der Gedanke beruhigt, es ist mein erster an diesem Abend, dann kommt lange Zeit keiner, aber die Welt dreht sich, auf Rollen, auf Rädern, Räder müssen schlingen für den Sief, die kleine englische Königin trägt weiße Handschuhe und formt Würstchen aus Knete, kackbräunliche Knete, keine bunte, der Schauspieler Bernhard Schütz kotzt, Andy Warhol öffnet den Mund und schreit, ein Penis steht – aber nur in einer Ecke, die Planen, zwischen denen wir hocken, sind rot beschmiert, Richard Wagner trägt am Arm ein Hakenkreuz, eine Frau sitzt in einer Kapsel, von der man nicht weiß, ob sie zum Tauchen oder Betonmischen besser geeignet sei, sie (die Frau!) quetscht Saft aus Zitronen, später riecht es nach Apfelsinen, aha, die haben anderen Saft als Zitronen, die Welt ist immer wieder eine Überraschung, auf einem KZ-Wachturm sitzt eine Babypuppe, einer sieht aus wie Johannes Heesters und lacht, als trüge er die zwölften Zähne, in das Lachen hinein passen zwei Zahnbürsten, die je von einem Assistenten hin- und herbewegt werden, es riecht nach Zahnpasta, von der Decke hängen Zeitungsfetzen, die Strombehandlungen hätten sie fertig gemacht, schreit eine Frau. Schizophren, steht auf einem Plakat aus Schrift- und Zeichenwirrwarr, das Normale ist heute das Wichtige, ruft Christoph Schlingensief, der wirklich Christoph Schlingensief ist, während Lady Di Jenny Elvers ist, mach doch Schluss mit deinem Leben, kräht eine Frau, wer ist da gemeint, es kann nicht die Frau mit den Zitronen gemeint sein, die ist noch nicht fertig mit Zitronensaft machen, Zitronen ausquetschen hat Sinn, vielleicht mehr, als Menschen ausquetschen, aber das wäre jetzt ein Gedanke, und den wollen wir doch vermeiden, das Huhn macht sich schließlich auch keine Gedanken, auch nicht den, warum wir es unbedingt anstarren müssen, starren wir lieber Dodi an, den wir aus dem Tunnel kennen, in dem Lady Di starb, Dodi kaut Kartoffelchips, auf dem Monitor rasen Spielzeugautos eine Spielzeugautobahn entlang, Hitler brüllt »Parteitag!«, Vorsicht beim vielen Starren, da steht eine Schüssel mit Blut, es ist heiß, es ist eng, es ist dunkel, es wird hell, aber es bleibt heiß, es wird laut, aber es bleibt eng, und da ist plötzlich wieder der Mann, der neben mir saß, ach guck an, denke ich, das Huhn, und dann sehe ich den Kultursenator, schade, nicht beim Huhn, ich hätte ihn gern starren sehen, er sieht nicht aus, als spiele er hier mit, eher so, als würde ihm mitgespielt, drei Kaninchen hocken am Boden und wissen nicht, dass man ganz leicht zum verfaulenden Hasen werden kann, der es tot bis nach Bayreuth schafft, eine Frau zitiert Goethe, vom Eise befreit, aber nur kurz, denn in Bayreuth war es auch schön, so ein Schwachsinn alles, so wunderbar irr alles, so langweilig, so peinlich, dass man mitmacht, so toll intellektuell, wie man hier mittut, als ob (Scheißhuhn!, ein Hohn!), wie nur kriegt man einen Kronleuchter in die Pappzimmerdecke, Bernhard Schütz, der kurz mal mit Kotzen aufgehört hat, zeigt es uns, Hans Brecht hat mich gequält, ruft jetzt die Frau mit der Strombehandlung, Lady Di sitzt auf einem gepressten Autoblechwürfel, die arg beschädigten Köpfe von Saddam Husseins toten Söhnen sehen nicht wirklich gut aus, Werner Brecht aber, schreit jetzt die Frau, war der liebste Mensch, den man sich vorstellen konnte. Ich bin drin, und ich will raus, aber ich bleib drin, immer mehr drängen herein, die Zitronenfrau im Betonmischer hat es gut, die hat Platz, die wird nicht gequetscht wie wir, als seien wir Zitronen in diesem Saftladen.
Nein, kein Saftladen, »Kaprow City« an der Berliner Volksbühne, eine begehbare Installation von Christoph Schlingensief, benannt nach dem US-Vater des Happenings, der im April starb. Ein Teil Zuschauer sitzt im Saal, schaut die Szene als Film; ein weiterer Teil Publikum sitzt auf Bänken hinten an der Wand des Bühnen-Rundhorizonts – und schaut in ein sich drehendes Karrussell aus zahlreichen kleinen Boxen, in denen ein weiterer Teil des Publikums sitzt. Tönt ein Gong, wechseln die Leute die Kabinen (das Huhn bleibt, wo es ist; und die Kabinen sind wie Schleusen, Gehirngänge, also: viel Müll, Dreck). Musik, Schrei, Schrift, Utensilien, huschende Menschen, Tiere, Monitore, Durcheinander. Wirrwarr, so wirr wie wahr.
Aus Kaprow City entkommen, angekommen daheim, in Berlin City, ist mir plötzlich, als habe meine Frau soeben gesagt: Starr nicht so wie ein Huhn! Also doch: Kunst verändert den Menschen.
Nächste Aufführung: 1. Oktober