»DA RATTERT ES IM GEHIRN WIE VERRÜCKT« (BRAUNSCHWEIGER ZEITUNG)

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Christoph Schlingensief beteiligt seine Braunschweiger Studenten an Aktionen – Ein Gespräch mit Franziska Pester

Von Martin Jasper

Die Schlingensief-Klasse der Kunsthochschule ist ein Parallel-Universum mitten in Braunschweig. Man gerät in ein Labyrinth von Stellwänden, duckt sich durch schmale Gänge, stolpert über allerlei ausgediente Elektrogeräte, passiert eine gruftige Sessel-Landschaft, drückt sich an einer ramponierten Dusche vorbei.

Die Wände sind übersät mit schreienden Schlagzeilen, Fotos, wilder Malerei und dick gepinselten Losungen wie „Erinnern heißt vergessen“ oder: „Bekennt euch zur eigenen Scheiße“.

Mit ihrem Gast-Professor, dem bekannten Regisseur und Aktionskünstler Christoph Schlingensief, haben die Studenten dieses trashige Universum zum Rundgang an der Kunsthochschule geschaffen.

Und sie begleiten ihn zu seinen theatralen Performances. Kürzlich nach Wien. Und jetzt nach Berlin, als er mit Jenny Elvers-Elbertzhagen als Lady Di seine Installation aus verschiedenen kuriosen Kammern in der Volksbühne aufgebaut hat. Sie assistieren ihm, werkeln an den Kammern mit, machen Besorgungen, bringen auch Ideen ein. Vor allem: Sie hören ihm zu.

„Das ist ganz wichtig für Christoph. Er braucht uns, um seine Ideen auszuprobieren und zu diskutieren, auch mal ganz schön laut“, sagt Franziska Pester. „Es gibt Ausbrüche, aber dann hält er manchmal auch inne und sagt: Da hab ich ja jetzt totalen Quatsch gelabert.“

Die 25-Jährige Studentin der Kunstpädagogik und des Darstellenden Spiels begeistert sich für Schlingensiefs Gespür, Kunst aus dem Moment zu schöpfen, für seine Lust, gedanklich und materiell die entlegensten Dinge zu kombinieren.

Und für seine Spontanität: „Manchmal ruft er mitten in der Nacht an, weil ihm was eingefallen ist, was wir ihm besorgen sollen. Manchmal haben wir was gebaut, und dann rennt er durch und brüllt: Das muss weg, alles einreißen, nochmal machen! Eines Morgens haben wir unseren Augen nicht getraut: Da war alles, was wir gemalt hatten, weiß überstrichen.“

Doch bei allem Temperament und bei aller Energie sei der Theatermacher auch extrem sensibel. „Er fragt uns, wie’s uns geht, er lädt uns zum Essen ein, er ruft an und bedankt sich. Er hat oft meinen Bauch gestreichelt, denn ich bin im fünften Monat schwanger.“ Für die junge Frau mit den hellblauen Augen ist Schlingensief ein „moderner Philosoph“. „Er hat mal gesagt: Ich möchte mich ganz durch mich selbst durchfressen. Das heißt: sich erbarmungslos selbst sezieren, sein Innerstes durchkauen, sich zu den eigenen Depressionen bekennen. Aber das Besondere an ihm ist: Er geht mit einer ungeheuren positiven Energie dagegen an! Er schöpft Mut aus der Angst!“

Das ist es, was Franziska Pester für sich mitnimmt aus der Zusammenarbeit: „Dass ich noch mehr Mut habe. Mut zur spontanen Aktion. Wenn du Bock hast, etwas zu zeigen, dann zeig es. Dass ich noch frecher auf Leute zugehe und sage: Hey, kommt, macht was!“

Kein Zweifel: Die Frau ist infiziert vom Bazillus Schlingensief. Gar nichts Negatives an dem Mann?

Sie überlegt, zuckt mit den Schultern: „Na ja, nach so einer Aktion mit ihm rattert es im Gehirn wie verrückt. Da braucht man schon eine Ruhephase. Zwei Tage nur Tee und Familie und Aus-dem-Fenster-gucken. Aber dann will man wieder extrem gern weitermachen!“

Braunschweiger Zeitung vom 30.9.2006