Erstmalig in der Geschichte des Kunstkompasses stellt Capital die international aussichtsreichsten Künstler vor, die in den vergangenen zwölf Monaten den größten Punktezuwachs durch Einzel- und Gruppenausstellungen verbuchen konnten
Von Linde Rohr-Bongard
Nach 37 Jahren führt zum ersten Mal eine Frau, Shirin Neshat, einen Capital-Kunstkompass an, den der 100 Aufsteiger des Jahres 2006 nämlich. Zwar verteidigen beim klassischen Kompass unangefochtene weibliche Stars wie Rosemarie Trockel, Louise Bourgeois oder Cindy Sherman ihre Plätze unter den Top Ten. Nun aber erobert eine Iranerin mit eindringlichen Foto- und Video arbeiten neues Terrain im Kunstbetrieb – und die Trophäe der Aufsteigerin des Jahres. Mit 17 Jahren verließ Neshat 1972 den Iran, um in den USA Malerei zu studieren. Doch erst Fotokunst löste bei der Wahl-New-Yorkerin die Initialzündung aus. In ihren poetischen, mit arabischen Schriftzeichen bedeckten Lichtbildern steht sich die zierliche Künstlerin selber Modell: „Ich muss betroffen sein, das ist mir wichtig.“
Die Wanderin zwischen Orient und Okzident ist seit Mitte der 90er-Jahre mit ihrer Serie Women of Allah zu einem Star im Kunstbetrieb avanciert. Seither wird sie regelmäßig zu Biennalen und der Documenta eingeladen. Neshat erzählt in bewegenden Bildern, unterlegt mit suggestiver Musik, von der Unterdrückung der Frau im Islam, ihrer religiös-gesellschaftlichen Einengung und dem Kampf um mehr Freiheit. „Ich mag Dinge, die mir den Atem rauben, die mich zum Weinen bringen und mich zutiefst berühren.“ Kunstpapst Arthur Danto rühmte ihr Werk als hypnotisch – eine Allegorie auf geheimnisvolle Wahrheiten. 1999 gewann Neshat den goldenen Löwen der Venedig-Biennale, eine der höchsten Ehrungen im Kunstbetrieb. Auch die großen Kunstbühnen, wie vor wenigen Monaten das Stedelijk in Amsterdam, zeigen in aufwändigen Einzelausstellungen die kulturellen Dialoge der Mittlerin zwischen Ost und West.
Mit dem neuen Ranking der 100 Umtriebigsten ist mehr als der Hälfte der dort genannten Künstler erstmals der Sprung in einen Kunstkompass gelungen. Dazu gehört auch der junge 33-jährige Maler und Shootingstar der Leipziger Schule Matthias Weischer. Auf Previews der großen Auktionshäuser wird er bereits neben Pablo Picasso und Roy Lichtenstein vorgeführt. Sein Leipziger und Berliner Galerist Judy Lybcke, mitverantwortlich für den Siegeszug der jungen, figurativ malenden Gilde der Leipziger Kunsthochschule, kann es sich inzwischen leisten, private wie öffentliche Sammler auszusuchen. „Spekulanten, die Weischers Bilder zur nächsten Auktion schleppen, um auf die Schnelle einen satten Gewinn einzustreichen, haben keine Chance bei mir“, warnt Erfolgsgalerist Lybcke.
Ein ähnlich rasanter Karrieresprung gelang mit Platz 33 der erst 30-jährigen New Yorker Malerin Dana Schutz. Ihre vehement gemalten Bilder mit gebeutelten Monstern, die Kritiker als apokalyptische Visionen unserer Gesellschaft deuten, werden begeistert gefeiert und verkauft. Auch bei ihr wird von einer Warteliste geraunt.
Skulpturen, Wohnmodelle, Möbel und Kleidungsstücke – anything goes!
Im Ranking der Aufsteiger dominiert ein facettenreiches Kaleidoskop an Nationen, Generationen und künstlerischen Konzepten, die sich gegenseitig nicht in die Quere kommen, sondern ergänzen. Auffällig viele Künstler beschränken ihre Aktivitäten nicht auf eine Disziplin, sondern verknüpfen und vernetzen unterschiedlichste Techniken, Methoden und Medien – frei nach der Devise anything goes. Sie bauen Skulpturen, produzieren aber auch Möbel, Wohnmodelle oder Kleidungsstücke wie die Amerikanerin Andrea Zittel.
Selbst prominente Provokateure aus anderen Disziplinen spielen in der neuen Rangliste mit. Der Wuppertaler Ästhetikprofessor und Performancekünstler Bazon Brock zum Beispiel schoss durch seine Geburtstagstournee in vielen deutschen Museen auf Platz 15. Multitalent Christoph Schlingensief gewann mit seinen Museumsinstallationen etwa in Leipzig und Berlin den 92. Rang.
Globalisierung gilt auch in der Kunstlandschaft. Erstmalig tauchen drei Chinesen bei den Hundert Großen auf. Der in Peking lebende Konzept- beziehungsweise Objektkünstler und Architekt Ai Weiwei gilt als graue Eminenz der jungen chinesischen Avantgarde. Im boomenden Kunstzentrum 798 hält der 49-Jährige mit einem Ausstellungsraum und Archiv die Fäden in der Hand. Seine asiatischen Kollegen Paul Chan und Cai Guo-Qiang leben schon seit Jahren in New York und betreiben von dort aus erfolgreich ihre Projekte. Derzeit feiert das Berliner Guggenheim in einer beeindruckenden Schau die exzentrische Kunst des Cai Guo-Qiang.
Kunstkompass II: Die Aufsteiger
Die hier gelisteten Künstler sammelten in den vergangenen zwölf Monaten den größten Punktezuwachs auf ihrem Ruhmeskonto – weil ihre Bilder, Skulpturen, Fotos, Video-Installationen oder Performances die größte Resonanz im Kunstbetrieb auslösten.
9.11.2006
Die Liste der 100 „umtriebigsten“ Künstler finden Sie unter http://www.capital.de/guide/kunstkompass/100005236.html?p=2!