SCHLINGENSIEFS LEKTIONEN (FAZ)

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Hören Sie den Vortrag von Christoph Schlingensief über Film, Parsifal, Kaprow und den Kunstbetrieb als solchen, anläßlich der „Dortmunder Lektionen zur Musikvermittlung“ vom 13. November 2006!

Wenn man ihn recht verstanden hat, dann gab es eine Fehlbelichtung als Erweckungserlebnis am Anfang seiner Künstlerkarriere: Auf einem Urlaubsfilmchen waren nicht nur der sehr junge Christoph Schlingensief mit Mutter am Strand, sondern auch Menschen zu sehen, die über die beiden drüberliefen. Der spätere Jungfilmer war sich sicher: Über seinen Bauch war keiner getrampelt. Ihn befiel daraufhin eine frühe Ahnung von dem, was die Rezensenten seines Bayreuther „Parsifal“ als „Bilderflut“ bezeichnet hatten. Des „Parsifals“ wegen hatte man Schlingensief eingeladen, im Dortmunder Konzerthaus eine der „Dortmunder Lektionen zur Musikvermittlung“ zu erteilen, und er redete und redete. Zunächst einmal wider das Vorurteil: Er hasse es, als Enfant terrible bezeichnet zu werden. Bald könne er sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum in dieser Eigenschaft begehen, aber das werde er ohne die Presse feiern. Die räumte ihrerseits mit dem Klischee auf, jeder Auftritt Schlingensiefs sei ein Medienhype: In Dortmund hatte man einen ansehnlichen Block von Sitzplätzen für Journalisten freigehalten; um diese Leerstelle herum drängte sich nun das Publikum. Es wurde Zeuge jenes „lebensnahen Chaos“, das Schlingensief an Richard Wagners Vita rühmte, wie er überhaupt ein dichtes Beziehungsnetz zwischen sich und Wagner knüpfte. In seinen ersten Filmversuchen seien Darsteller in einer Szene mit roten, in der nächsten mit blauen T-Shirts aufgetreten: typische Fehler eines Filmemacherdebütanten, aus denen er viel über szenische Zusammenhänge gelernt habe: „Da wußte ich, ich lande einmal in Bayreuth.“ Wer der Wortflut Schlingensiefs standhielt, hatte am Ende tatsächlich irgend etwas über dessen Arbeitsweise als Opernregisseur erfahren. Bei ihm wird die Fachsprache des Filmers zum Metaphern-Reservoir für das Leben und die Kunst: Wässern, Fixieren, Einfach-, Doppel- und Dreifachbelichung. Aussagen wie: „Der Film ist ein chemisches Produkt, das zerfällt.“ Fragen wie: „Was geschieht zwischen den Bildern?“ Die Musik ist da anders: „Musik ist im besten Falle unsichtbar.“ Was macht der Augenmensch mit der unsichtbaren Materie? „Ich bin Filmemacher. Mich interessiert der Organismus der Musik.“ Dem nähert sich Schlingensief nicht bloß bebildernd, sondern er will ihn „durchdringen“ und „bestrahlen“ mit Hilfe des Mediums Film. Die Bilderflut des Schlingensiefschen „Parsifal“ ist also das Resultat einer Röntgenbehandlung. Die Arbeit an der Inszenierung beginnt, „wo die Musik mich umfasst und ich den Bildern ausgeliefert werde, die die Musik in mir provoziert“. Da schien durch die muntere Rede des netten Jungen mit dem ergrauenden Haar beträchtlicher Kunsternst durch. Dann wurde Bayreuth anekdotisch nachbereitet: Die Schilderung, wie bei den „Parsifal“-Proben um den Einsatz von Gaze-Vorhängen gerungen wurde, wie Boulez hier helfend eingriff, Wagner dort grummelnd klein beigab, Geländegewinn zentimeterweise erstritten wurde. Schlingensief als präzise arbeitender Praktiker. Die Widerstände, sagt er, hätten ihn
„Demut“ gelehrt.

FAZ, 20.11.2006
Michael Gassmann

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