SCHLINGENSIEF FEHLT (DER FREITAG)

Veröffentlicht am Autor admin

Provokationskunst „Er war der, der er war, mehr nicht, aber immerhin, wer kann das schon von sich sagen.“ Vor fünf Jahren starb Christoph Schlingensief. Seine Provokationskunst fehlt.

Ein Blog-Beitrag von Freitag-Community-Mitglied Marlen Hobrack

Christoph Schlingensief ist seit fünf Jahren tot. So lange schon?, fragt man sich verwundert, und tatsächlich: Er, der Provokationskünstler, fehlt in den Debatten um Griechenland oder die Flüchtlingskrise. Es fehlt ein Schlingensief-Coup von der Dimension der Chance 2000, des von ihm gegründeten Parteiprojekts. 6 Millionen Arbeitslose sollten damals  im Wolfgangsee baden und ihn damit zum Überlaufen bringen (um Helmut Kohls Ferienhaus zu überschwemmen). Übergelaufen ist der See nicht. Aber immerhin brachte die Aktion den Salzburger Bürgermeister Josef Dechant zum Schäumen. Der grotesk-irrwitzige Größenwahn: Der fehlt, bei aller Bescheidenheit, den meisten politischen Künstlern und Aktivisten.

Was könnte er dieser Tage nicht alles inszenieren! Einen Ritt auf dem Höllenmotorrad mit Varoufakis auf dem Sattel, einen Schäuble-Rollstuhl zum Sozius umgebaut, und dann ab zur Akropolis cruisen, unterwegs tausende griechische Rentner und Arbeitslose sammeln, gemeinsam ein trojanisches Pferd zimmern und es anschließend bis nach Berlin ziehen. Man stelle sich vor, Schlingensief hätte ein Interview mit Varoufakis geführt – ob er Varoufakis, den großen Selbstinszenator, vielleicht entzaubert hätte?

Oder die Flüchtlingskatastrophe!

Schon im Jahr 2000 widmete er sich dem Thema Fremdenhass im Rahmen seiner Installation Ausländer raus! Schlingensiefs Container, eine Art Big Brother für Asylbewerber, wobei die Zuschauer die Asylbewerber nicht nur aus dem Container, sondern auch aus dem Land herauswählen durften. Die Online-Wahlbeteiligung war groß.

Ob man die Aktion in ihrer Bloßstellungskraft noch übertreffen könnte?

Vielleicht würde er heute hunderttausend Gummiboote im Mittelmeer schwimmen lassen, für jeden Flüchtling, der sich in den letzten Jahren übers Meer gewagt hat, eines. Vielleicht wäre er selbst über das Wasser gewandelt, über die Boote, meine ich. Er, der in den letzten Jahren seines Lebens dem christlichen Erlöser-Pathos etwas zu viel zugesprochen hatte, wie Omilein dem Eierlikör. Vielleicht noch ein Gläschen, und noch eines… Kann ja nicht schaden.

Womöglich hätte er dabei den, am wagnerischen Werk geschulten Sinn für Pathos wieder hinter sich gelassen und  zu seiner Primärtugend zurückgefunden: Weniger Wagner, dafür mehr Schlingensief, Wahnwitz statt Wahnfried.

„Ich sage: Wenn einer auf der Bühne »Herein!« ruft, dann darf die Tür eben gerade nicht aufgehen. Dann ist es besser, wenn einer tot umfällt.“

(Christoph Schlingensief im Spex-Interview)

Das Zentrum für politische Schönheit ließ die Toten kommen, das galt vielen schon als pietätlos (als sei es pietätvoller, die Leichen der Menschen in Kühlhäusern einzulagern), aber man ahnt, dass Schlingensief die Lebenden hätte kommen lassen.

Er hätte vielleicht ein Bild gefunden, für unser Pathos des Mitleids bei gleichzeitiger, praktischer Untätigkeit in Flüchtlingsfragen. Ich stelle mir Schlingensief vor, wie er mit Flüchtlingen im Musikantenstadl auftritt, 100 Flüchtlinge auf der Bühne, zwischen Heuballen und pfiffigen Kutschen und in die Landschaft gestreuten Dirndl-Trägern. „Sparen Sie sich Ihre SOS Patenschaft, nehmen Sie auf der Stelle einen Flüchtling mit nach Hause, so ein kleines hübsches Kind mit traurigen Augen, das macht sich doch gut im 1-a-gepflegten Gärtchen zu Hause!“, und Florian Silbereisen hätte zwei drei vier Tränen aus dem Knopfloch gequetscht.

Aber vielleicht hatte er die Antwort auf nicht gestellte Fragen zu Flüchtlingen bereits gefunden mit seinem Opernhaus-Projekt in Burkina Faso, das Afrikaner nicht mehr als Hilfeempfänger und NGO-Opfer sehen wollte, nicht als Menschen, die von Europäern gerettet werden müssen.

Irgendwas zwischen Faust und Fitzcarraldo

Schlingensief verstand sein Opernhaus-Projekt gerade nicht als postkolonialen Kulturexport nach Afrika. Nicht der weiße Mann soll den Afrikanern die Kultur bringen. Er wünschte es sich andersherum: Es sollte ein Ort entstehen, an dem ureigene kreative Energien frei werden, die dann womöglich nach Europa exportiert werden.

Kann Kultur ohne ihre Akteure wandern? Wenn wir alles dafür tun, uns afrikanische Migranten vom Leib zu halten: Muss dann nicht auch die Idee des Kulturimports scheitern?

Schlingensief ahnte das Problem.

In seinem Theaterstück S.M.A.S.H. – In Hilfe ersticken, sieht er eben jenes Operndorf aufgrund seines Erfolges von Hilfsorganisationen überrannt, weil der Europäer sich Afrikaner nicht anders als hilfesuchend und bedürftig vorstellen kann. So wird der (erträumte) Erfolg zum Ausgangspunkt für das Ersticken der freigewordenen kulturellen Kraft, eine faustische Schreckversion.

Mangel, Not, Sorge, Schuld: Vielleicht ahnt Schlingensief hier, dass jede Form der Einmischung, trotz bester Intention, den Keim der Zerstörung in sich trägt.

„Ich habe nichts erlebt in meinem Leben, aber ich habe immer alles behauptet, zur Not mit den Worten anderer.“

(Christoph Schlingensief im Spex-Interview)

Schlingensief, der Baumeister. Schlingensief, der große Zerstörer! Schlingensief konnte gut gepflegte Fassaden einreißen, Menschen entzaubern, allein dadurch, dass er sie zum Reden brachte.

Das Zum-Reden-Bringen war die eigentliche Kunst Schlingensiefs, nicht der Trash, nicht der Pathos, nicht die Liebe, die besonders bei seinem Opernhausprojekt in  spürbar wurde. Aber zum Reden bringen konnte er nur, weil er nie zynisch war.

In seinen Dialogen, ob mit Late-Night Talker Harald Schmidt oder in seiner eigenen Talkshow, sieht man die Schlingensiefsche Mäeutik, die Hebammenkunst, in ihrer Reinform.

Wenn Rudolph Moshammer sich in Schlingensiefs Talkshow Talk 2000 an die Armen und Kranken und Runtergekommenen im Land wendet, sie direkt adressiert und ihnen empfiehlt, sich an der Schönheit des Regenbogens („der kostet nichts!“) zu erfreuen, um Mut für den neuen Tag zu fassen, möchte man vor lauter Scham tief im Boden versinken.

Die Talkshow, die ihre Gäste bekanntermaßen im Auftrag der Quote gerne vorführt, tat hier genau das Gegenteil: Sie nahm ihre Gäste ernst. Und entblößte genau dadurch ihre Peinlichkeit. Man sieht einen Mann wie Moshammer, der sich nicht nackt machen kann (jedenfalls nicht im Fernsehen), in der großen Konfrontation mit dem Allesentblößer. Der Zuschauer schämt sich fremd, er leidet, wird kathartisch gereinigt, denn sind wir nicht alle wie der Moshammer? So eitel und selbstgefällig und verstellt?

Nur Schlingensief schämt sich nicht, warum auch. Vielleicht war er ein großer Schauspieler, der die Schamlosigkeit nur spielte. Oder einfach so unverstellt, dass er die Scham gar nicht nötig hatte?

Schlingensief selbst war das eigentliche Kunstwerk. Und jeder Versuch der Musealisierung seines Werks muss daran scheitern, dass man ihn nicht konservieren kann, diesen wunderbaren, wahnwitzigen Mann.

Quelle: Der Freitag, 23.8.2015