Im Jahr 1997 verlieh die Akademie der Künste ihren alljährlich „für herausragende Leistungen auf den Gebieten der darstellenden Kunst und der Film- und Medienkunst“ gestifteten Konrad-Wolf-Preis an Volker Schlöndorff. Damals schien die maximale Diskrepanz zwischen Preisträger und Namensgeber erreicht zu sein. Ausgerechnet Schlöndorff, der nicht nur als hochangesehener Regisseur, sondern auch als rabiater Abwickler der Babelsberger Studios in die deutsch-deutsche Filmgeschichte eingegangen ist, nahm einen Preis als Trophäe mit nach Hause, der einst nach dem wichtigsten aller DEFA-Regisseure benannt worden war. Kurz vorher hatte er noch verkündet, dass die DEFA etwas sei, was „nicht gut riecht“.
In diesem Jahr nun geht derselbe Preis an Christoph Schlingensief. Wird damit das Jahr 1997 noch übertroffen? Auf den ersten Blick könnten Schlingensief und Wolf wohl kaum verschiedener sein. Weder Herkunft, Werdegang oder Handschrift noch politische Gesinnung oder der Stil ihres Auftretens weisen Gemeinsamkeiten auf. Während Konrad Wolf für sein stets auf Vermittlung bedachtes Handeln bekannt war, rüpelte, provozierte und kränkte Christoph Schlingensief – Diplomat und Feingeist der eine, Berserker und Enfant terrible der andere. Lediglich die Tatsache, dass sie beide Künstler waren und Filme gedreht haben, scheint sie zu so etwas wie Kollegen zu machen.
Vergleicht man nun diese Filme, ergibt sich auch hier zunächst wenig Verbindendes. Konrad Wolf wurde nach seinem Moskauer Studium zum prominenten DDR-Regisseur, der hochprofessionelle Werke über die deutsche Gegenwart und vor allem Vergangenheit schuf. In ihnen zeigte er die Grenzen von Humanismus und Aufklärung auf („Ich war neunzehn“) oder thematisierte mit Bedacht die Kollision von individuellen Ansprüchen und sozialistischer Wirklichkeit („Solo Sunny“). Obwohl Konrad Wolf geschützt war durch seine staatstragende Verwandtschaft (sein Bruder Markus leitete den Auslandsnachrichtendienst im Ministerium für Staatssicherheit; beider Vater war der „proletarisch-revolutionäre“ Schriftsteller Fridrich Wolf) und die eigene Einbindung in Partei und Apparat, wusste er stets um die Relativität der gewährten Freiräume. Ein Dissident war er nie.
Stets auf der Suche nach KonfrontationChristoph Schlingensief suchte hingegen stets die Konfrontation – tat dies allerdings mit dem Wissen des komfortablen Hinterlands, das die westliche Demokratie nun einmal bot. Hier musste man sich schon einiges einfallen lassen, um überhaupt noch aufzufallen. Diese unterschiedlichen zeitlichen, mentalen und politischen Konstellationen führten zwangsläufig auch zu grundverschiedenen Ergebnissen. So drehten beide Regisseure zwar Filme über den Nationalsozialismus – die Ergebnisse wirken allerdings wie aus spiegelverkehrten Sonnensystemen. Schlingensief parodierte 1989 in „100 Jahre Adolf Hitler“ die NS-Führungsriege als schrilles Panoptikum, in dem es keinerlei Spielraum für Differenzierungen geben konnte. Opfer kamen hier ebenso wenig vor wie Täter, denn Letztere wurden lediglich als Schießbudenfiguren präsentiert. Konrad Wolfs „Sterne“ war 1959 einer der ersten und bis heute eindringlichsten Filme über den Holocaust. Er zeigt die seelischen Nöte eines deutschen Soldaten, der die Ausmaße der Vernichtungsmaschinerie zu begreifen und sich dagegen aufzulehnen beginnt. Was hätte wohl Wolf zu Schlingensiefs Film gesagt?
Bei aller Polarität zwischen Hysterie (Schlingensief) und Empathie (Wolf) gibt es aber doch auch Schnittmengen. Die ergeben sich aus dem jeweiligen Aufkündigen stillschweigenden Einvernehmens. Beiden ging es um das Sichtbarmachen von Widersprüchen im Umgang mit der Vergangenheit. Der staatliche Antifaschismus der DDR sprach die eigenen Bürger von jeder Einzelschuld frei, schob das Problem der „Aufarbeitung“ Richtung Westen ab, wo viele alte Nazis Amt und Würden bekleideten. Dort wiederum bemächtigte sich eine zunehmend selbstzufriedener werdende Linke des Themas.
So absurd dies zunächst auch erscheinen mag, sind Schlingensief und Konrad Wolf durch ihre Haltung doch verbunden – sie ist eine elementar-humanistische. Im Operndorf im westafrikanischen Burkina Faso, das ausdrücklich in den Konrad-Wolf-Preis mit einbezogen wird, fand diese Haltung ihre materialisierte Gestalt. Am 24. Oktober wäre Christoph Schlingensief 55 Jahre alt geworden.
Von Claus Löser
Quelle: Berliner Zeitung vom 20.10.2015