DER UNTERGRUNDKÜNSTLER (GOETHE-INSTITUT)

Veröffentlicht am Autor admin
Christoph Schlingensief starb 2010 im Alter von nur 49 Jahren. Einer einfachen Einordnung entzieht sich der Aktionskünstler in seiner schöpferischen Vielfalt noch immer erfolgreich. Jörg van der Horst, einstiger Mitarbeiter Schlingensiefs, fragt nach dessen Aktualität.

 

Anfang 2010 beschleicht Christoph Schlingensief das ungute Gefühl, zu flüchtig, sogar zu wenig gearbeitet zu haben. Vielleicht ahnt er, dass ihm nur noch wenig Zeit bleibt. Mal resigniert er vor der Übermacht, vor der ständigen physischen und psychischen Präsenz seiner Krebserkrankung, die im Anschluss an eine Routineuntersuchung im Januar 2008 diagnostiziert worden ist. Dann wieder schöpft er aus der eigenen Ohnmacht, aus Angst und Zweifel – Antriebskräfte, die seine Arbeit seit den 1980er-Jahren geprägt haben. Er entwickelt eine blanke Lebens- und Arbeitswut gegen „diese Scheiße Krebs“. Was bis dahin schon schwer genug gewesen ist, wird für die Menschen in seinem Umfeld zunehmend unmöglich: Schritt zu halten mit dem Tempo, in dem Schlingensief jetzt denkt und agiert, in dem er, der Getriebene, Ideen und Vorhaben entwirft und wieder verwirft.

Aufkratzen der Oberfläche

Zwei herausragende Projekte der beiden letzten Jahre – das Fluxus-Oratorium Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir (2008) und die Ready-Made-Oper Mea Culpa (2009) – widmet er seiner Erkrankung. Sie richten sich an sein Verlangen, leben zu wollen, und an die Gewissheit, plötzlich, vor seiner Zeit, sterben zu müssen. Es sind Beschwörungen. Schlingensief feiert sich selbst, seine Verunsicherung, seine Verzweiflung und mehr noch: seinen zukünftigen Tod. Das ist ergreifend, ein Hochamt. Das ist auch kitschig und irgendwie grausam, ein Exorzismus. Aber es ist wahrhaftig. Man nimmt ihm diese Weihespiele ab, weil sie ein Panoptikum eröffnen, in dem er seit jeher unterwegs ist.

Gemeinsam mit der Publikation seines Krebstagebuchs So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein (2008), das in Deutschland ein Bestseller wird, tragen Kirche der Angst und Mea Culpa maßgeblich zu einer breiten und emotionalen Diskussion darüber bei, wie öffentlich jemand sein privates Leiden machen darf. Zumal wenn Schlingensief das Privileg des Künstlers, die Bühne, dazu gebraucht, um dieses Leiden durchzuspielen. „Gebrauchen“, „Durchspielen“, das sind in diesem Zusammenhang bewusst gewählte Worte. Sie beschreiben Methoden seiner ganzen Arbeit. Es ist die Arbeit eines Künstlers, der den Oberflächen misstraut und der sie deshalb aufkratzt. Und es ist ein schwer fassbares Werk, das Werk eines wahrhaften Untergrundkünstlers.

 

 

Dieses Werk in Phasen zu zerlegen, würde bedeuten, seinen Fluss zu unterbrechen. Ganz gleich, ob in seinem Heimatmedium Film, im Theater, auf der Straße, im Fernsehen, im Hörspiel, in der Oper oder im Museum, immer hat Schlingensief Partikel vorangegangener Arbeiten im Gepäck und montiert sie neu, montiert sie anders. Er übermalt seine Kunst und des Öfteren auch sich selbst. In der rasanten TV-Show U3000 (2000) aus einer fahrenden U-Bahn oder in den Aktionen der Atta-Trilogie (2003/2004) begießt er sich selbst bis zur Unkenntlichkeit mit Farben. Er ist identisch mit seinem Werk. Beharrlich leistet er, der Untergrundkünstler, Widerstand. Widerstand gegen Konventionen, Konformismen und Konstanten, ob sie nun die universalen Themen beherrschen, den deutschen Alltag oder die Sehgewohnheiten des eigenen Schaffens.

In Schlingensiefs Räumen steht allzeit die Frage, ob das noch Inszenierung ist oder schon Eskalation, der Ausbruch der Kunst oder der Einbruch des Realen, noch Anfang oder schon Ende. Was er in diesen Räumen untersucht, seziert und gelegentlich malträtiert, ist der soziale Körper. Sein letztes Projekt, das 2008 gegründete Operndorf Afrika in Burkina Faso, liest sich darum eben nicht wie ein Vermächtnis an die Nachwelt, das verwaltet sein will. Es ist ein Anfang, geht über seinen Tod hinaus, eine Vision vom Aufgehen der Künste in Lebenswirklichkeit.

Von Afrika lernen

Seit 1993 reist Schlingensief mehr oder minder regelmäßig nach Afrika. Zunächst nach Namibia, 1996 nach Simbabwe, wo er unter abenteuerlichen Umständen den Film United Trash dreht. In den Folgejahren kehrt er drei Mal nach Namibia, das ehemalige Deutsch-Südwestafrika, zurück: 1999 improvisiert er hier eine Wagner-Rallye als letzten Teil der sogenannten Deutschlandsuche ’99. Auf einer Rundreise im Frühjahr 2004 bereitet er seine Bayreuther Inszenierung des Parsifal vor, die im Folgenden sowohl thematisch als auch gestalterisch deutlich afrikanische Züge trägt. Das Bayreuther Festspielhaus auf dem Grünen Hügel, das Epizentrum urdeutscher Wagnerkultur, wird afrikanisiert, mehr noch zurückkolonialisiert – ein Gedanke, der bald auch in Schlingensiefs Idee vom „Operndorf“ einzieht. 2005 macht er Station in der Hafenstadt Lüderitz, wo er anlässlich seiner Langzeitarbeit Der Animatograph im Township Area 7 eine begehbare Drehbühne installiert und Szenen für sein Filmmonument The African Twintowers dreht, das wiederum – im Fluss der Werke – zum Herzstück seiner ersten großen Einzelausstellung 18 Bilder pro Sekunde (2007) wird.

 

 

Schlingensiefs Affinität zum afrikanischen Kontinent allein im Sinne einer Inspirationsquelle zu deuten, griffe zu kurz. Es hat, so seltsam es klingt, immer auch mit einer temporären Flucht zu tun – aus der so empfundenen deutschen Enge und der Enge des deutschen Kulturbetriebs, um Deutschland gewissermaßen am anderen Ende der Welt wiederzufinden, da, wo man es am wenigsten vermutet. Seine Fähigkeit zur Projektion – zur Übermalung des einen Extrems durch das nächste – muss man stets im Blick haben, wenn man sich zum Betrachter seiner Kunst macht. Also interessiert ihn an Namibia die Behauptung eines deutschen Paralleluniversums, wie sie eine vor Großmannssucht strotzende Kolonialpolitik aufgestellt hat, und wie sie in mancherlei Politik heute noch durchschimmert – und ihn fasziniert das Planspiel, das solche Paradoxien in ihr Gegenteil verkehrt, sie „bis zur Kenntlichkeit“ entstellt.

Das paradoxe Moment schlägt sich schließlich auch im Titel Operndorf Afrika nieder. Oper? – Afrika? Welche Art Wissens- und Kulturtransfer von der Ersten in eine zur Dritten degradierten Welt soll das bitte sein? Schlingensief stellt das gemeine Verständnis vom Hilfsprogramm bis hin zum modernen Messianismus vollständig auf den Kopf. „Von Afrika lernen“ und „Macht mit unserem Geld, was ihr wollt“ sind Parolen, die er dem Bau dieser Experimentierstatt voranstellt. Mit ihm betritt Fitzcarraldo Afrika, jener Romantiker, der nicht weniger wollte, als im peruanischen Urwald ein Opernhaus zu errichten, nicht weniger, als den produktiven Wahnsinn zu verwirklichen. „Unsere Oper ist ein Dorf“, beschreibt Schlingensief seine Vision, „ein Dorf mit einer Grundschule, einer Geburten- und Krankenstation, Sportanlagen und Proberäumen. Eine Komposition aus Alltag, der gelebt sein will.“ Die vielbeschworene „Werkstatt Bayreuth“, die er an Ort und Stelle nicht hat finden können, in Burkina Faso behauptet er sie. Hier realisiert sie sich mittlerweile selbst.

Plagen der Neuzeit

Ein antagonistisches Prinzip zieht sich bei aller Heterogenität wie ein roter Faden durch den Schlingensief-Kosmos, durch die Filme der Deutschlandtrilogie (1989–1992), Theaterarbeiten wie 100 Jahre CDU (1993), Rocky Dutschke ’68 (1996) oder Kunst & Gemüse, A. Hipler (2004), die Parsifal-Inszenierungen (2004–2007) und erst recht durch die Editionen seines eigenen Gesamtkunstwerks, des Animatographen (2005/2006). Es begegnen sich Geburt und Comic, Chaos und Adorno, Leidenschaft und Erstarrung, Isolation und Massenhysterie, Karneval und Tod. Die Leichtigkeit des Seins trifft auf komplette Überforderung, Poesie auf Drastik. Sicherheit ist nirgends, Schlingensiefs beinahe heiliger Ernst hingegen ist überall.

Seine Arbeit zeichnet sich nicht nur gegenüber dem Werk anderer Künstler durch eine atemberaubende Andersartigkeit aus. Sie tut dies vor allem im Verhältnis zu sich selbst. Unvereinbarkeiten und Unsinn sind da zwangsläufig, und sie sind gewollt. Es sind die ewigen Widersprüche und die Plagen der Neuzeit, die Schlingensief auf den Plan rufen. Das mag nach missionarischem Eifer klingen, nach moralinhaltigem Engagement. In der künstlerischen Praxis ist es das genaue Gegenteil. Seine Filme bezeichnet er als Verbrechen, sein Theater bezeichnen andere als handgreiflich. Er bevorzugt die Täterrolle, wo andere das Opferlamm feiern. Es sind die Dogmatiker und Heilsverkünder, die Schlingensief verdächtig sind. Ob sie nun von der Kirchenkanzel, aus den Parlamenten, aus dem Fernseher oder auch nur von den Bühnen predigen – in seinen Augen machen sich all jene unglaubwürdig, die einem partout etwas glauben machen wollen.

Mit der Church of Fear (2003) errichtet er den Ungläubigen ein Denkmal, indem er sie bei der Biennale in Venedig auf Säulen setzt. Er kultiviert das Andersdenken – und das Anderssein. Die geistig und körperlich Behinderten, die seit Beginn der 1990er-Jahre mit Schlingensief arbeiten, repräsentieren nicht die Bedauernswerten und vom Schicksal Gezeichneten, zu denen sie oft fahrlässig abgestempelt werden. In Schlacht um Europa (1997) an der Berliner Volksbühne oder im TV-Magazin Freakstars 3000 (2002) sind sie das beneidenswerte Ideal, Menschen, die ganz bei sich sind, die sich nicht erst inszenieren müssen, um darzustellen. Neben diesem natürlichen Ausdruck bleibt jedem professionellen Schauspieler nur die Rolle des Statisten. Die Behinderten erst konstituieren Schlingensiefs intuitives Theater der unbegrenzten Möglichkeiten. Sie geben den Takt vor und bewirken die Lücken im geschmierten Spiel, die er als das größte Glück empfindet.

Junkies, Obdachlose und Arbeitslose, die Schlingensief in Projekten wie Notruf für Deutschland (1997) oder Chance 2000 (1998) zu Hauptpersonen macht, fungieren nicht als das schlechte Gewissen einer anonymen Gesellschaft. Sie treten als Individuen in Erscheinung, die für sich selbst sprechen. Sie sind autonome Zellen. Gleiches gilt für die sieben Neonazis, die Schlingensief in seiner Version des Hamlet (2001) als Schauspieltruppe im Schauspiel zu Wort kommen lässt – Gleiches gilt auch für ihn. Er steht im Zentrum seiner Arbeiten, überhöht sich aber nicht.

Während der Aktion Bitte liebt Österreich (2000) moderiert er die allabendliche Abschiebung von Asylbewerbern, die in einem Container mit der Aufschrift „Ausländer raus“ interniert sind. Das bringt Schlingensief den zwischenzeitlichen Ruf ein, menschenverachtend, profilierungssüchtig oder wenigstens mediengeil zu sein. Dabei beruht die geballte Demütigung der Aktion auf der explosiven Vermengung aktueller Zitate wahlkämpfender Politiker mit dem Konzept des weltweiten TV-Erfolgs Big Brother. Abermals spielt Schlingensief also ein Wors-Case-Szenario durch, das andere vorgeben.

Vorbilder?

Geht es um eine grundsätzliche Verortung der Person Schlingensief innerhalb seiner Projekte, fällt kein Wort häufiger als das vom Provokateur. Es mutet fast schon an wie eine Berufsbezeichnung, weil es sich zwischen totaler Ablehnung einerseits und Anerkennung einer vermeintlich anarchischen Attitüde andererseits beliebig dehnen lässt. Schlingensief hingegen bevorzugt den Begriff der Selbstprovokation, schließlich setzt er sich seinen Versuchsanordnungen selber aus. Haftbarkeit übernehmen, heißt die Devise.

Künstler wie Joseph Beuys oder Paul McCarthy, die Wiener Aktionisten oder Matthew Barney tauchen immer wieder in seinen Arbeiten auf, Richard Wagner ist geradezu ein Leitmotiv. Sie sind aber niemals reine Referenz, sondern werden von Schlingensief hinterfragt und auf ihren Gebrauchswert hin abgeklopft. In ihm nur einen verspäteten Dadaisten, Situationisten oder einen Dekonstruktivisten auszumachen, würde niemandem gerecht. Auch Schlingensief nicht. Nennt er Luis Buñuel als einziges Vorbild und zitiert André Breton, so ist seine Richtung dennoch nicht surreal, weil sie nicht ästhetisch überhöht, weil sie sich nicht in Phantasmen niederschlägt. Vielleicht ist Schlingensief ein Subrealist. Er kehrt kein Unterbewusstsein nach außen. Er abstrahiert das Bewusste, das, was eigentlich direkt vor unserer Nase liegt. Ganz bestimmt ist er ein Eklektizist und Archäologe der Gegenwart, der seine Fundstücke ausgräbt und sie wieder und wieder verwertet. Die Grenzen, die er verwischt, sind immer auch die Grenzen der Kunst und ihrer Stilarten.

Brutstätte im Abseits

Alles in allem bleibt Schlingensief ein Randständiger, auch nach durchaus etablierenden Schritten an das Burgtheater Wien, nach Bayreuth und in den Deutschen Pavillon in Venedig, den er für die Biennale 2011 gestalten sollte. Die Leidenschaft, mit der er aus dieser Position heraus sich und die Welt in Angriff nimmt, lässt den Schluss zu, dass er im Abseits seine Brutstätte gefunden hat. Seine Arbeit ist, soviel Emphase muss sein, eine Arbeit am Ende der Kunst, vielleicht ihr Epilog – und deshalb immer erst im Werden, immer ein Aufbruch.

Schlingensiefs Tod am 21. August 2010 im Alter von nur 49 Jahren ist eine unentschuldbare Verschwendung an Kreativität und Eigensinn. Deutschland, vielleicht sogar der Welt, der Welt der Kunst ganz bestimmt, ist ein Berserker abhandengekommen, rücksichtslos gegen sich und andere, neugierig und in seiner Neugier von bestechendem Enthusiasmus. Die Einzigartigkeit seines Werks beweist sich an dessen Vielfalt, ihrer Ambivalenz und Lust am Synkretismus in Form und Inhalt. Sein Posten im Untergrund ist verwaist. Sein überbordender Mut zur Einmischung zwischen Kunstraum und Lebenswelt hat noch keinen Nachfolger gefunden. Auf Sichtweite gibt es keinen wie ihn, den Forscher, den Verbrecher, den Subrealisten, der sich mit Haut und Haar an den Oberflächen seiner Zeit zu schaffen macht. Wohl auch darum ist es beinahe unmöglich, Schlingensiefs Fortwirken in den Künsten zu bemessen. Natürlich sind da die Epigonen und auch Erbschleicher, die sich seinen Namen mit leichter Hand auf ihre Fahnen schreiben. Halten wir ihnen zugute, dass sie es nicht besser wissen, dass sie ihn nicht besser kennen können, eben weil er so früh verstorben und so jäh aus dem Fluss seiner Arbeit gerissen worden ist. Stemmt er auch Inszenierungen, Aktionen, Projekte und Installationen, die durchaus als wegweisend zu bezeichnen sind, so bleibt doch das Gefühl, dass es vor allem sein eigener Weg ist. Ein Weg, den kein anderer gehen kann, weil er vollends an die Person, auch an die Marke Schlingensief gebunden ist.

Jetzt ist die Zeit, um Christoph Schlingensief zu erforschen und in seinem Werk auf Reisen zu gehen; ihn zu entdecken, seine Kunst, seine Wahrhaftigkeit – unter den Oberflächen, im Untergrund.

 

Autor

Jörg van der Horst war von 1998 bis 2010 künstlerischer Mitarbeiter, Konzepter und Pressereferent von Christoph Schlingensief. Heute arbeitet er unter anderem als Textredakteur für die Nachlassverwaltung Christoph Schlingensief und die Festspielhaus Afrika gGmbH.

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Quelle: www.goethe.de