Christoph Schlingensief produziert eine chaotische TV-Reihe in der Akademie der Künste
Von Ulrich Seidler
Die Veranstaltung läuft bereits seit viereinhalb Stunden, es ist gegen 22.30 Uhr. Wir befinden uns im gläsernen Foyer der Akademie der Künste, wo Christoph Schlingensief mit echten und unechten, prominenten und unprominenten Gästen an drei Tagen sechs Talkshows namens „Die Piloten“ produziert. Das aufgenommene Material wird auf ein Drittel zusammengeschnitten und wohl irgendwann auch auf Arte gesendet.
Langsam gleiten wir in eine Phase ab, die wohl kaum noch brauchbares Material hervorbringen wird, was nicht heißt, dass man nicht ewig so abgleiten könnte: Nachdem eine unechte ehemalige Mitarbeiterin vom desaströsen Arbeitsklima bei Suhrkamp berichtet hat – man habe ihr die Männer missgegönnt, es sei zu Schlägereien, ungewollten Schwangerschaften und psychischen Erkrankungen gekommen -, fordert sie den Moderator auf, endlich Schluss zu machen, weil wir alle nach Hause wollten. Der Angesprochene bittet den echten Gotthilf Fischer (hat er ihn gebeten oder war er nicht zu bremsen?) zum Abschied noch ein Lied anzustimmen. Der echte Rapper Sido ist ohnehin schon ein bisschen genervt, weil er nichts kapiert hat, als der echte Claus Grossner – angekündigt als „Terminator“ und „Barbar“, der den Suhrkamp-Verlag „in die Knie gekauft hat“ – über Adornos negative Dialektik und das Weltwissen-Weltethos-Weltzukunft-System schwadronierte. Und jetzt noch Fischer! Sido protestiert friedlich, indem er Maulfürze ins Mikro entweichen lässt, mit einem Spray hantiert, die Nase wie ein Bankräuber im Halstuch versteckt und flüchtet. Fischer, Podium und Publikum singen: „Das ist die Berliner Luft“, während sich ein nasebetäubender Geruch verbreitet. Schlingensief ruft noch: „Sido, das war ja Pupsspray“, und die Veranstaltung löst sich auf. Ein großer, irritierend unterhaltsamer, unverdaulicher, gesellschaftskritischer, politisch unkorrekter, eitler, wichtiger und lustiger Abend nahm ein würdiges und gerechtes Ende.
Worum es ging? Das kann noch nicht gesagt werden. Das Thema, so versprach Schlingensief, werde bei der Montage – also bei der Manipulation – noch hineingeschnitten. Gleichwohl werden die Manipulatoren um eines nicht herumkommen: um Drusenpapillen. Schlingensief hat welche, und sein Augenchirurg (vermutlich echt) erklärt, worum es geht. Drusenpapillen sind mehlartige Ablagerungen auf dem Sehnerv. Dieser „Müll“ beeinträchtige zunehmend Schlingensiefs Gesichtsfeld, aber erblinden wird er daran nicht. Abgesehen davon, dass die Drusenpapille Schlingensief Angst einjagt (vermutlich echte), eignet sie sich hervorragend als metaphorisches Talkshow-Leitmotiv. Denn nicht nur Zellmüll, sondern auch „Hirnmüll“ schränke das Sehvermögen von uns Menschen ein. Hinzuzufügen wären andere blendende Schmutzpartikel: Medienmüll, Religionsmüll, Moralmüll, Politikmüll – lauter Überflüssiges, das sich zwischen unseren Sinnen und der Welt ablagert. Deswegen wäre es durchaus angebracht, wenn die Fensterputzerkosten den Kulturetat der gläsernen Akademie der Künste übersteigt, wie Schlingensief behauptet.
Der Akademiepräsident Klaus Staeck und der Dramatiker Rolf Hochhuth (beide echt) wurden als erste Gäste in der „Talkshow von Kranken für Kranke“ aufgerufen. Staeck gab den ironischen Schlingensief-Durchschauer und versuchte, Hochhuth vor Peinlichkeiten zu bewahren. Der aber blieb in dem Ansturm von Ungereimtheiten stets bei sich. Als der Filmemacher Oskar Röhler (echt), der Spaßmacher Rolf Zacher (echt) und eine verschleierte Muslima mit unaussprechlichem Namen (vermutlich unecht) kamen, um Röhlers neues Filmprojekt (unecht) über eine orientalisch-westliche Liebe mit tragischem Ausgang (Krebs) zu promoten – und bei allem erfolglos versuchten, lustiger zu sein als die Show, blieb Hochhuth beim Thema: „Krebs? Das ist kein gesellschaftliches Thema.“ Er hielt sich auch wacker, als er von einer Dolmetscherin (unecht) einen hysterischen Heiratsantrag bekam und als Schlingensief den Schleier der Muslima zu lüpfen versuchte, weil er schon sehbehindert genug sei und sich durch den Sichtschutz beleidigt fühle.
Entgleisungen solcher Art waren wohl dosiert und wurden sicher von der Showband „The Pleasures“ oder von der Floskel „und nach der Werbepause: Tom Cruise“ aufgefangen. Ununterbrochen winkte Schlingensief neue Gäste auf sein drehbares, mit alten Möbeln, Zimmerpflanzen, Flaschen und Kamerastativen vollgestelltes Podium. Es war so eng, dass sich die beiden dicken Künstler Hermann Nitsch (echt) und Jonathan Meese (unecht) in einen Sessel quetschen mussten. Allein für dieses Bild schuldet die Mediengesellschaft dem Mediendirigenten Schlingensief knienden Dank.
17.1.07