Der Regisseur hat wieder eine Talkshow. In der Sendung „Die Piloten“ versammelt er illustre Gäste in Berlin. Beim ersten Abend, der auf Arte ausgestrahlt werden soll, waren unter anderem der Rapper Sido, Pfarrer Fliege, Rolf Hochhuth und Gotthilf Fischer da. Schlingensiefs Fazit: „Wir sind alle krank“
Von Johanna Schmeller
Es ist kein guter Abend für den Berliner Rapper Sido. Das superintelligente Drogenopfer sitzt unmaskiert auf der Bühne und möchte eigentlich gern über sich selbst sprechen. Über sein neues Album „Ich“, das so persönlich ist, dass Sido sich deshalb sogar die Totenkopfmaske vom Gesicht gerissen hat.
Doch spätestens, als der Buch-Investor Klaus Grossner auftritt auf als „der Mann, der Suhrkamp vernichten will, indem er es kauft“, wird es dem selbsternannten Drogenopfer einfach zu blöde. Sido fragt nach, ob man nun eventuell wieder von interessanten Dingen sprechen könnte: „Ich krieg hier nämlich nix mit. Also, ich hör schon alles. Aber ich versteh’ echt nix.“
Mit „Die Piloten – 10 Jahre Talk 2000“ startet Christoph Schlingensief eine sechsteilige Sendereihe, die voraussichtlich auf Arte zu sehen sein wird. Er knüpft damit an seine frühere Talkshow „Talk 2000“ an, in der er vor zehn Jahren Gäste wie Hildegard Knef, Rudolf Moshammer und Beate Uhse interviewte. Die Akademie der Künste am Pariser Platz macht Schlingensief zu seinem TV Studio. In der Mitte des gläsernen Foyers lässt er eine Bühne errichten, die sich fortwährend dreht – eine Herausforderung für Kameraleute und Kabelträger. Auf dem kreisrunden Podest stehen orange-braune Polstermöbel, billige Klappstühle aus Plastik, rosa Stehlampen mit bestickten Bordüren um einen eckigen Couch-Tisch, darauf eine angetrunkene Flasche Jack Daniel’s. In die Sitzmöbel fläzen sich Dramatiker Rolf Hochhuth, Talk-Master Jürgen Fliege, Rolf Zacher, ein Double des Malers Jonathan Meese und zwei, drei, zeitweilig auch mehr Menschen mit geistigen Behinderungen und nervösen Verhaltensstörungen.
Menschen zusammenbringen, die nicht zusammen passen, und Themen auf eine Art besprechen, die sich einfach nicht gehört – so das simple Prinzip von „Die Piloten“. Die ersten beiden Sendungen sind „Krankheit“ und „Angst“ gewidmet. Schlingensief erzählt von einem Augenleiden. Rolf Hochhuth kontert mit seiner einseitigen Gesichtslähmung. Ein Augenarzt gibt Auskunft, Helge Schneider wird live angerufen und zum Thema befragt. Und auf Leinwänden flimmert immer wieder die berühmte Szene aus Dalis und Bunuels „Andalusischem Hund“, in der einer jungen Frau der Augapfel langsam mit einem Rasiermesser durchtrennt wird.
Rolf Hochhuth muss einen Sehtest machen. Der fällt zwar gar nicht übel aus, doch man einigt sich trotzdem schnell, dass Blindheit kreativ macht.
Die Vorsitzende des Verbandes der Kleinwüchsigen in Deutschland spricht über Diskriminierung. „Benutzen Sie google earth?“, fragt Schlingensief, „das wäre dann nämlich unfair, Sie sind einfach nicht dafür geschaffen, die Welt so zu sehen.“ Und manchmal holt sich der Regisseur ein paar hübsche Mädchen auf die Bühne, die Schauspielerin Katharina Schüttler etwa, oder die Grünen-Politikerin Julia Seeliger – „um zu zeigen, dass da Schönheit nachwächst“.
Immer wieder erreicht das Chaos inszenierte Höhepunkte. Ein wütender, verwirrter Rentner stürzt brüllend auf die Bühne. Einer verschleierten Frau reißt Schlingensief den Tschador vom Gesicht. Deren Arabisch-Übersetzerin schmeißt sich Rolf Zacher an die Brust, um ihm weinend ihre Liebe zu gestehen. Die Showband „The Pleasures“, eine wild geschminkte Rockgruppe in schillernden Kostümen, würdigt der Gastgeber mit den Worten „Die sind hier, weil sie es meinen, wie sie sind“, und stellt im nächsten Atemzug fest: „Wir sind doch eigentlich alle nur Fliegenschiss auf der Windschutzscheibe.“
Mit einem grantelnden Hermann Nitsch diskutiert er darüber, wie das damals in Bayreuth gelaufen sei – damals, als er, Schlingensief, den Parsifal inszeniert habe, nicht Nitsch.
„Wie hättest du das denn gemacht?“, fragt er den Wiener Aktionskünstler interessiert. Die Musik hätte er nicht angetastet, erwidert der, und doch, es hätte wohl schon ein blutendes Schwein am Bühnenrand gelegen, „in dessen offenem Leib man in Gedärmen wühlt“. Und damals hätte man sich ja noch nicht gekannt, doch inzwischen habe ihn die herzliche Art Schlingensiefs überzeugt. Der ist gerührt.
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Und trotz diverser Pannen – einige Mikrophone funktionieren nicht, Gäste werden vergessen, andere werden zu früh auf die Bühne geschickt – ist Schlingensief überzeugt: Jeder Mensch kann Fernsehen machen, immer, überall. Nur sein Publikum ist dem Theater-Provokateur heute zu zahm. „Applaus, bitte, mehr Applaus!“, ruft er immer wieder. Sido ist zu diesem Zeitpunkt sicher längst zuhause.
17.1.07