HAUPTSACHE, MAN HAT MAL DRÜBER GEREDET (KÖLNER STADTANZEIGER)

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Der Regisseur und Medienberserker Christoph Schlingensief hat dem medialen Zeitgeist wieder einmal die Temperatur gemessen. Befund: Überhitzt, banal, um sich selbst kreisend, beliebig.

Von Horst Willi Schors

„Das Thema bin eigentlich ich“, findet Schlingensief und changiert in seiner neuen Show als Talkmaster virtuos zwischen den Rollen, die uns in den täglich vorgeführt werden. Verständnisgierig wie Beckmann, schulterklopfend wie Kerner, pseudo-intellektuell wie Harald Schmidt, alle Peinlichkeitsgrenzen durchbohrend wie Michel Friedman und unsagbar wie die jungen Damen und Herren der Nachmittagsshows, die als Wertstoffhof für jugendlichen Seelenmüll fungieren. Ganz allein geht das natürlich nicht.

Darum hat Schlingensief für seine ersten beiden neuen Shows, die in der Berliner Akademie der Künste aufgezeichnet wurden und irgendwann bei Arte gesendet werden, einige angegraute Schlachtrösser der deutschen Talkshow-Wirklichkeit auf die runde, sich ständig drehende Bühne gelockt: den Dramatiker Rolf Hochhuth und den Vorsänger der Nation, Gotthilf Fischer, Fernseh-Tröster Pastor Fliege und die dröhnende Knallcharge Rolf Zacher. Es gab aber auch ein paar frischere Gesichter: die Schauspielerin Katharina Schüttler, den Rapper Sido, den Regisseur Oskar Roehler („Elementarteilchen“) und den Wiener Aktionskünstler Hermann Nitsch. Zehn Jahre nach seiner legendären Fernsehtalkshow „Talk 2000“, bei der sich unter anderem Hildegard Knef, Kunstfälscher Konrad Kujau und der dahingeschiedene Modeschöpfer Moshammer die Ehre gaben, ist Schlingensief zu einem neuen Inspektionsflug aufgebrochen. „Die Piloten“ heißt sein Projekt und verspricht einen „Blindflug in neue, alte, verheißungsvoll abgegriffene Fernsehregionen“. Das Verfahren ist simpel, aber effektvoll: Schlingensief zerlegt die deutsche TV-Realität in ihre Einzelteile und setzt sie – leicht verrückt – wieder zusammen.

Das Ergebnis ist vorhersehbar, doch unterhaltsam. Kein Stein bleibt auf dem anderen, Gesprächspartner und Zuschauer („Mehr Applaus bitte“) lassen sich lustvoll zum Affen machen, werden hin und wieder aber auch in die Betroffenheitsfalle gelockt. Ein schwerbehinderter Schauspieler berichtet über sein Schicksal, ein geistig behinderter Mann über das Leben mit seiner Mutter. Aber ist das alles echt? Der Blinde, der nuschelnd über sein Sexualleben berichtet, spaziert Stunden später mit klaren Augen davon. Und haben wir den wegen Pädophilie exkommunizierten Priester nicht drei Stunden vorher schon als Alzheimer-Patienten gesehen?

Schlingensief parliert ausschweifend über den Befund seines Augenarztes, lässt sich von einem (vermutlich echten) Professor bestätigen, dass keine Blindheit droht. „Blind sind ja nur die Kritiker“ trägt Hermann Nitsch, der wegen seiner blutigen Mysterienspiele manche Anfeindung erleben musste, zum Thema bei, das sich dann rasch über Terrorismus, Straßenkinder und Weltfrieden in immer neue Ebenen verästelt. Der Regisseur Schlingensief, ständig auf seiner Drehbühne unterwegs, schafft auch schöne Stillleben. Da thront im Ledersessel der Kunst-Titan Nitsch, den weißen Bart auf dem gewölbten Bauch; auf der breiten Lehne balanciert – feenhaft und fast durchsichtig – Katharina Schüttler, dahinter steht Rolf Zacher und ruft nach seinem Chauffeur. Aber werden die Fernsehzuschauer das sehen? „Wir schneiden das raus“, kündigt Schlingensief an. „Sie werden die Show nicht wiedererkennen.“

Plötzlich wird es seriös. Der Kaufmann Claus Grossner, der sich finanziell beim Suhrkamp-Verlag engagiert und einen Streit über die Zukunft des renommierten Verlags vom Zaun gebrochen hat, spricht von „negativer Dialektik“ und davon, dass aus dem Geiste Schlingensiefs die Suhrkamp-Kultur neuentstehen könnte. „Ich hab das alles gehört“, mault der Rapper Sido, „aber ich habe nichts verstanden.“ „Und nun die Werbung“, jubelt Schlingensief, „und nach der Werbung Tom Cruise.“ Dann tut noch jeder, was er tun muss. Gotthilf Fischer singt „Das ist die Berliner Luft“, Sido versprüht übelriechende Essenzen, der Talkmaster schüttelt Hände. Der Blindflug durch die Medienzukunft (oder ist es bereits die Gegenwart?) schafft freien Blick auf eine Wirklichkeit, die leider nicht so lustig ist wie Schlingensiefs Talkshow.

18.1.07