Wider alle Wahrscheinlichkeit inszeniert Christoph Schlingensief am Amazonas eine Oper
Drei Grad südlich des Äquators, vor wenigen Nachmittagen: Der deutsche Regisseur Christoph Schlingensief sitzt auf der Terrasse des kleinen Restaurants „Scarola“ in Manaus, einer Stadt mitten im brasilianischen Regenwald, und sieht aus wie immer, nur brauner. Seine Haare stehen wie gewohnt in alle Richtungen vom Kopf weg, seine Augen blitzen etwas heller als sonst aus seinem Jungengesicht. In zwei Tagen hat hier sein „Fliegender Holländer“ Premiere, es ist nach dem „Parsifal“ in Bayreuth seine zweite Operninszenierung, sechs Wochen Probenzeit liegen hinter ihm. Anfang Februar ist Schlingensiefs Vater gestorben, seine Mutter hatte vor wenigen Tagen einen Schlaganfall – es ist anzunehmen, dass dieser Mann ziemlich durch den Wind ist, aber es ist ihm nichts anzumerken. Im Moment unterhält er einen ganzen Tisch voller Leute, und in der Zeit, in der andere einmal Luft holen, hat er schon acht Gedanken zu einer in sich logischen Welt verwoben, hat, Mythen, Tagespolitik und die unmittelbare Umgebung streifend, eine Vision entwickelt, die sich auf einer Bühne umsetzen lässt, hat das Ganze nach links und rechts mit Pointen versehen und isst dabei auch noch ein Schokoladeneis. Und das alles in einem Klima, in dem es heiß und die Luft so feucht ist, dass eine Zeitschrift, die man auf einen Tisch legt, sich nach wenigen Minuten wellt.
Dass es in Manaus ein Opernhaus gibt, ist nicht zuletzt aus Werner Herzogs „Fitzcarraldo“ bekannt, dem Film, in dem Klaus Kinski so berühmt ein Schiff über einen Berg zieht und der in ebenjenem Opernhaus beginnt, aber man muss wahrscheinlich vor Ort gewesen sein, um zu verstehen, was es bedeutet. Es ist eine Stadt, die der Mensch dem Urwald abgetrotzt hat. Eine große Stadt, reich geworden mit Kautschukhandel, heute nicht mehr so reich, dafür Freihandelszone und wichtiger Industriestandort. 1,8 Millionen Menschen wohnen hier, eine Art Wunder, denn eigentlich wollen hier Pflanzen leben. Kaum steht ein Haus leer, wachsen Farne durch die Fenster nach innen, übernehmen Schlingpflanzen die Treppenhäuser, schießen Palmen vom Erdgeschoss aus kerzengerade in die Höhe, und bald bilden ihre Kronen ein neues, raschelndes Dach. Beinahe jedes Gebäude in Manaus ist von Schimmel befallen, der schwarze Flecken auf die Wände malt. In der Luft liegt ein leichter Modergeruch. Sogar im Taj Mahal, dem besten Platz am Ort, das stolz ein Drehrestaurant sein Eigen nennt, riecht es komisch. Wie Wäsche, die zu lange feucht gelegen hat.
Und hier steht nun also, 1896 erbaut, ein Opernhaus. Ausgerechnet. Die kultivierteste Form von Zivilisation. Und als am Abend mit einem Freiluftspektakel das „Festival Amazonas de Opera“ eröffnet wird, es ist das elfte seiner Art, als ein Orchester elektronisch verstärkt die ersten Takte der Ouvertüre des „Fliegenden Holländers“ spielt, da würde es einen wirklich überhaupt nicht wundern, wenn das Gebäude, das da so unwirklich in die Höhe ragt, als stünde es in Wien und nicht am Amazonas, wenn dieses Gebäude von der Musik in die Luft getragen würde, wenn es wegfliegen würde wie ein Ufo, begleitet vom Blinken der Kronleuchter im Foyer. Aber es bleibt stehen. Allen Unwahrscheinlichkeiten zum Trotz. Der Dirigent zerteilt die warme schwere Luft mit seinem Dirigentenstab, mehrere tausend Leute sitzen auf Plastikstühlen, hören Wagner und essen Zuckerwatte, die als Clowns verkleidete Brasilianerinnen vor Beginn verkauft hatten. Sänger singen, ein Chor tritt auf, irgendwann wird ein Schiff von links nach rechts getragen, dazu große zappelnde Plastikfische, mit denen Schlingensief aber nichts zu tun hat, wie eine Frau vom Goethe-Institut uns Journalisten zuflüstert, und noch etwas später, es hat schon ziemlich lange gedauert, setzen brasilianische Trommeln ein, holen Wagner in die Tropen, und es formiert sich eine Prozession in Richtung Hafen.
Es wird noch eine lange Nacht werden, eine lange heiße Nacht, an deren Ende Christoph Schlingensief mehrere Stunden neues Filmmaterial haben wird, gedreht mit seiner 16-Millimeter-Kamera in einem verlassenen Kloster zwei Bootsstunden den Rio Negro hinunter. Heute wohnen Bäume darin, und durch die Decke hängen Schlingpflanzen, die aussehen wie Dreadlocks. Auf der Rückfahrt über den schwarzen Fluss schlafen die Journalisten an Deck, Schlingensief ist wach und hält Wache. Als schließlich alle in ihre vergilbten Hotelbetten fallen, ist es schon hell.
An dieser Stelle, kurz vor der feierlichen Premiere, auf die ganz Manaus schon seit Wochen hinfiebert, eine kurze Unterbrechung, um all die Fragen zu beantworten, die sich bis hierhin sicher aufgetan haben.
– Warum inszeniert Christoph Schlingensief am Amazonas?
Die Idee entstand vor drei Jahren. Die Goethe-Institute São Paulo und Rio de Janeiro hatten Schlingensief zu einer Recherchereise nach Lateinamerika eingeladen. Damals wurde gerade ein Gemeinschaftsprojekt mehrerer Goethe-Institute mit dem Titel „Tropen“ geplant, und weil man schon länger vorhatte, mal etwas mit Christoph Schlingensief zu machen, beschloss man, dies sei eine gute Gelegenheit.
– Wer bezahlt das?
Das Festival in Manaus gab 500 000 Euro, die Kulturstiftung des Bundes 198 000 Euro, das Goethe-Institut half durch personelle Unterstützung, Vermittlung, Vernetzung und indirekte Mittel.
– Warum der „Fliegende Holländer“?
Nach seiner – zum Erstaunen vieler geglückten – Bayreuther „Parsifal“-Inszenierung wollte Schlingensief noch mal Wagner inszenieren; als er 2004 in São Paulo den Festivalleiter und Dirigenten Luiz Fernando Malheiro traf und die beiden über eine mögliche Zusammenarbeit sprachen, schlug Malheiro den „Holländer“ vor, den das Opernhaus von Manaus ohnehin geplant hatte.
Zurück nach Manaus, wo jetzt, eine halbe Stunde vor Beginn der Premiere, ein roter Teppich den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens bildet. Er führt längs durch das Foyer des Opernhauses und empfängt die ankommenden Gäste, die sich, einmal eingetreten, rasch ihrer Schirme entledigen und kontrollierend nach der Frisur greifen, denn draußen fällt gerade und ohne dass es sich angekündigt hatte eine Wand aus Regen vom Himmel. Links und rechts vom Teppich stehen Paare Spalier, die sich als Prinzen und Prinzessinnen verkleidet haben, richtig mit Krönchen und Federhut. Männer mit weiß geschminkten Pantomimegesichtern verkaufen Programmhefte. Vereinzelt haben sich Deutsche unters Premierenpublikum gemischt, man erkennt sie an der warmen Kleidung – im Opernsaal soll es sehr kalt sein, hatte es geheißen – die Brasilianerinnen kommen ungerührt mit nackten Schultern.
Im Saal ist es dann tatsächlich sehr kalt. Es ist ein Opernsaal wie aus einem Bilderbuch. Roter Samtvorhang, ansteigendes Parkett, Guckkastenlogen. Wie überall in der Stadt riecht es auch hier nach Keller. Als der Dirigent kommt, brandet Applaus auf. Einsatz, und los. Das Orchester klingt etwas scheppernd, aber dass es hier ein Orchester gibt, ist ohnehin schon ein Wunder, es muss für die Streicher eine Herausforderung sein, ihr Instrument in diesen Breitengraden gestimmt zu halten. Man sitzt in roten Samtstühlen, die sich ab dem zweiten Akt als unbequem erweisen sollen. In den Zuschauerreihen knackt und fächert es, hin und wieder fliegt ein „Schsch“ von den Rängen, wenn sich wieder ein paar Besucher zu einem Gespräch hatten hinreißen lassen. Wie sie ihnen wohl gefällt, den Bürgern von Manaus, diese Schlingensief-Inszenierung des „Fliegenden Holländers“? Ob er ihnen etwas zu sagen hat, der Mann, der in Deutschland als Enfant terrible gilt, obwohl er das eine nicht mehr ist und das andere nie war.
Kennt jeder die Handlung? Nein? Ist ja auch nicht so wichtig. Es geht um Schuld und Sühne und Erlösung und Verdammnis. Ein Vater kommt vor, der seine Tochter weggibt; ein Seemann, der mit einem Fluch behaftet ist. Glücklicherweise ist es die kürzeste Wagneroper, bei Schlingensief dauert sie mit Umbauten knapp vier Stunden. Den Holländer sang einer dieser Klischeesänger, die den ganzen Abend lang ihrer eigenen erhobenen Hand hinterherlaufen – ab und zu ein Griff ans Herz, ja, schlägt noch. Dafür war der Vater sehr gut. Ach, aber eigentlich war das alles wirklich vollkommen egal. Das Ganze war im besten Sinne ein Gesamtkunstwerk, und dazu gehörte der tropische Regen, der draußen niederging, genauso wie die brasilianischen Trommler, die am Ende des zweiten Aktes plötzlich zwischen den Zuschauerreihen standen und trommelten, als gäbe es keinen dritten Akt. Dazu gehörten die wunderschönen bewegten Schwarzweißbilder, die Schlingensief während der letzten Wochen hier gedreht hatte und die, auf Stoffe und Wände projiziert, dem Bühnenbild einen flirrenden Zauber verliehen – Dampfer auf dem Rio Negro, eine Messe im Regenwald, brasilianische Ureinwohner, Kinder, Frauen. Dazu gehörte der Männerchor, der in Nonnentracht auftrat und sich in seinem feierlichen Ernst auch von einer Sambatänzerin nicht stören ließ, die unablässig vor ihm auf und ab wedelte. Dazu gehörte die Drehbühne, die altmodisch noch von Hand gezogen wurde und ächzend und knarzend den Blick freigab auf immer neue Treppchen und Bauten und Winkel. Dazu gehörte das venezianisch anmutende, hell und blau getupfte Deckenfresko, das sich über den Köpfen der Zuschauer aufspannte wie ein Himmelszelt. Und auch die Kuppel, die sich in brasilianischem Grüngelb über das Opernhaus wölbte und an diesem Abend an schwere Regenwolken stieß. Und dazu gehört der Mann, der all das gestemmt hat und sich dabei nicht von Krankheiten abhalten ließ, nicht von Trauer, Sorge oder Regenzeit. Ein Schiff über einen Berg, pah. JOHANNA ADORJÁN
Vom 25. Mai bis 16. September widmet das Haus der Kunst in München Christoph Schlingensief eine große Ausstellung; dort werden unter anderem auch die Filme zu sehen sein, die in Manaus entstanden sind.
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29.04.2007, Nr. 17 / Seite 28