BYE-BYE, BAYREUTH (FAZ)

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Dernieren auf dem Hügel: „Tannhäuser“ und „Parsifal“

Von Eleonore Büning, FAZ

Zu einem zünftigen Gesamtkunstwerk gehört nicht zuletzt auch das richtige Vorhangaufziehen. Die weltberühmte mausgraue „Wagner-Gardine“ in Bayreuth wird seit mehr als hundert Jahren alleweil fließend seitlich gerafft und erst anschließend hochgezogen. So verlangt es das Ritual, das Christoph Schlingensief nun gezielt seiner „Parsifal“-Inszenierung eingemeindet hat. So aufreizend langsam legt sich die Gardine in Falten, als wollten die elektrischen Strippenzieher nicht (frei nach Kundry, dritter Aufzug) „Dienen! Dienen!“ rufen, sondern nur noch „Schlafen – Schlafen“ (erster Aufzug). In jedem Akt scheint dieser Zeitlupenvorhang ein neues Geheimnis zu enthüllen: den gestirnten Himmel, eine lichterkettenbunte Kirmesbude, eine fromme Pietà.

Für eine Sekundenewigkeit sprechen diese Tableaus allein für sich. Dann überstürzen sich die Geschehnisse, beginnt das Schlingensiefsche Multitasking, das Durcheinanderwursteln von Menschen, Tieren, Wundern mit all den Doppelgängern, Voodoozauberern, Terroristen und vor allem großen und kleinen, echten und falschen, lebenden und toten Osterhasen. Zum vierten und bedauerlicherweise letzten Mal ist diese turbulente „Parsifal“-Lesart in Bayreuth zu sehen. Nicht einmal eine Filmaufzeichnung wird es geben von dem Spektakel. Wer es noch erleben will, sollte sich also sputen und sofort mit einem „Suche Karte“-Schildchen auf den Hügel eilen. Die Chancen stehen nicht schlecht, repräsentative Teile der „Freunde und Förderer“ sind demonstrativ am Tag vor dieser letzten Premiere abgereist: Sie wollen die „Schande“ einfach nicht mehr sehen.

Die vorangegangene Bayreuther „Parsifal“-Inszenierung stammte noch von Wolfgang Wagner persönlich, sie hielt sich satte zwölf Jahre lang. Wann wurde je ein „Parsifal“ so blitzschnell wieder aus dem Programm gekippt? Letztlich wird sich die Festspielleitung mit dieser Entscheidung wohl auch dem Willen der allerstrengsten Wagnerianer gebeugt haben, was viele Hügelschlachtenbummler als ein Zeichen von Führungsschwäche interpretieren, ähnlich wie die Auseinandersetzung zwischen Festspielleitung und „Freunden“ um das Loch im Bayreuther Finanzplan. Hätte der streitbare Alte wirklich noch selbst das Heft in der Hand, wer weiß, ob er ausgerechnet eine so offenkundig als Kult sich entpuppende Produktion wie den Schlingensief- „Parsifal“ um des lieben Burgfriedens willen aufgegeben hätte. Auch für den Chéreau-„Ring“, auch für den Müller-„Tristan“ hatte Wolfgang Wagner doch weiland Atem genug.

Schlingensiefs Inszenierung ist ein hervorragendes Exempel dafür, wie Bayreuths Festspielidee selbst die frechsten Provokateure zu zähmen wusste. Als einziger der zur Zeit hier tätigen Künstler hat er den „Werkstatt“-Gedanken verwirklicht und von Jahr zu Jahr vieles verändert, einiges verbessert. Was stehenblieb von der ersten Version, erscheint in den Konturen klarer geworden, schärfer gefasst. Das Ende des ersten Akts, nach der Blutopfer-Prozession rund um die Gralsenthüllung, ist jetzt leergeräumt, Buden und Zelte sind verschwunden, die Bühne ist kahl. Auch hat Schlingensief gelernt, mit Opernsängern umzugehen. Er zieht sichtbar klare Argumentationslinien, die das Hörbare tragen, sorgt für eine nachvollziehbare Gefühlslogik in der Personenregie und nicht zuletzt für hinreißende Bilder.

Die kollektive Fußwaschung ist solch ein Tableau, ebenso Kundrys Taufe und Tod, auch das lustig-lüsterne Sichherumdrücken der Blumenmädchen am Maschendrahtzaun. Sie sind frisch aus dem afrikanischen Busch eingetroffen und singen prächtig. Die schöne Höllenrose Kundry alias Evelyn Herlitzius ist eine glühend intensive Darstellerin, nur ihre Stimme beginnt unter zu starkem Forcieren zu leiden. Gemeinsam mit ihren beiden Rittern Parsifal (auch er brüllt zu laut: Alfons Ebers) und Amfortas (noch lauter: Jukka Rasilainen) muss sie sich im dunklen Wald verstecken vor dem bösen Klingsor. Immer wieder stöbert er die drei auf. Sie fliehen händchenhaltend wie Hänsel und Gretel.

Zwar kommt Klingsor im dritten Aufzug bei Wagner singend gar nicht mehr vor, sein Reich der Negation ist „zernichtet“. Doch hat sich Schlingensief auf der rotierenden Drehbühne aus Nomadenbauten und multifunktionalen Kinoleinwänden ein Einsteinsches Raum-Zeit-Kontinuum geschaffen, darin Tod, Auferstehung und Wiedergeburt zu einem Mirakel zusammenfallen. Vielleicht kam bisher kein „Parsifal“-Regisseur dem Raum-Zeit-Gefüge der Wagnerschen Musik näher als Schlingensief. Es gibt keine linear zu erzählende Geschichte mehr in diesem „Parsifal“, alles geschieht simultan. Wie die Orchestersprache vor- und zurückblendet, sich erinnernd, vorauswissend-verwandelnd, so verwandelt auch Schlingensief seine Figuren. Sie sterben, verdoppeln sich, kehren wieder. Klingsor, der vom ansehnlich durchtrainierten Bassbariton Karsten Mewes mit zirkusreifen Artistenleistungen bedacht wird, katapultiert sich mit seinem effektvollen Raketenstart im zweiten Aufzug eigentlich nur wieder in die nächste Umlaufbahn.

Im Gegensatz dazu zeigt die zweite Derniere dieser Spielzeit, wie rasch modische Designerarbeit altert und schal wird. Philippe Arlauds beliebte „Tannhäuser“-Inszenierung mit den Nelken, die aus der Decke wachsen, und der elegant in den Schnürboden davonfliegenden Venusgrotte funktioniert in der Wiederholung nicht mal mehr richtig als Märchen für Erwachsene. Auch die Sängercrew im „Tannhäuser“ forciert durchwegs aufs Unangenehmste, als müsste die Lautstärke beim Wagnersingen partout aufgedreht werden.

Sie hätten das gar nicht nötig, denn sie werden auf Händen getragen von der flexiblen und durchsichtigen Musizierweise, die der junge Detmolder Dirigent Christoph Ulrich Meyer pflegt. Sein Aufzug der Gäste gerät, nicht zuletzt des Chores wegen, zu einem Glanzstück. Meyer, als einer der Assistenten Christian Thielemanns bestens vertraut mit der „Tannhäuser“-Partitur, ist eine echte Überraschung: Er sprang sehr kurzfristig ein für den Dresdner Generalmusikdirektor Fabio Luisi, der wegen Rückenproblemen abgesagt hatte, danach aber noch einmal in Wien am Pult gesichtet wurde, was ihm in Bayreuth sehr übel genommen wird. Wie anders ein und dasselbe Orchester klingen kann, je nachdem, welcher Dirigent am Pult steht, war am letzten Abend im „Parsifal“ zu erfahren. Adam Fischer dirigiert bodenständig, mit sattem Legato: Alle Töne sind da. Aber die feine Binnendynamik, mit der Thielemann oder auch Meyer jede einzelne Phrase modulieren und ins Leben, ins Leuchten bringen, wird von ihm nicht erreicht.

Am Ende winkte Schlingensief fröhlich ins Buh- und Bravo-Gewitter hinüber, seine Fans jauchzten und winkten zurück: bye-bye, Bayreuth. Dies ist ein Gefühl, das auch viele Alt-Wagnerianer zurzeit mit sich herumtragen. Wenn nämlich die Avantgarde-Freaks wie Schlingensief oder Katharina Wagner nicht mehr nur kleine bunte Farbtupfer sind, sondern das Sagen auf dem Hügel haben, werden sie, so fürchten sie, ihre Mitgliedschaft kündigen müssen.