ZERSETZUNG HAT MIT ERLÖSUNG ZU TUN (ZÜRCHER TAGESANZEIGER)

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Christoph Schlingensief denkt im Zürcher Migros-Museum intensiv über den Film nach

Von Barbara Basting

Christoph Schlingensief, das sind Aufsehen erregende Theaterinszenierungen samt Strassenaktion wie «Hamlet» (2001) unter Einbezug von ausstiegswilligen Neonazis oder «Attabambi Pornoland» (2003), beide in der Ära Christoph Marthaler in Zürich. Es sind politische Akupunkturen wie der «Ausländer raus»-Container (2000) in Wien oder die Gründung der «Church of Fear» (2003) in Venedig. Es sind seine viel diskutierten Operninszenierungen, sein Bayreuther «Parsifal» (seit 2004) und sein «Fliegender Holländer» (2007) im brasilianischen Manaus.

Und es sind Provokationen, so weit das Auge reicht. Doch das Auge schaut bekanntlich manchmal zu weit voraus und sucht reflexartig die Provokation, weil das zum von Schlingensief abgesteckten Erwartungshorizont gehört. So mag mancher schon aufschrecken und Blasphemie wittern, wenn auf der Einladungskarte des Migros-Museums, in dem der 1960 geborene deutsche Multikünstler nun mit einer Einzelausstellung unter dem Titel «Querverstümmelung» zu Gast ist, ein verkrüppelter Gekreuzigter zu sehen ist.

Es ist aber «nur» einer der behinderten Schauspieler, mit denen Schlingensief seit langem zusammenarbeitet. Nicht allein die Schönheit, auch das Vorurteil liegt eben im Auge des Betrachters. Dazu passt, was Schlingensief jüngst in einem Interview äusserte: «Was mich langweilt, ist das Monopol des Betrachters. Wer betrachtet mal den Betrachter?»

Der stotternde, sich auflösende Film

Und so montierte er in seiner begehbaren Theaterinstallation «Kaprow City» an der Volksbühne Berlin 2006 Videokameras, die auch die Besucher beim Rundgang mitfilmte. Im Migros-Museum eröffnet ein Teil der Berliner Drehbühne, die wie ein aufgeschnittener Ammonit in Kompartimente eingeteilt war, die Schau. Sie ist aber nicht mehr wie dort begehbar, sondern knapp einsehbar in Plastikfolie verpackt. Nur Filme, alle in Schwarzweiss, und Fotografien erinnern unter anderem an Schlingensiefs Remake der «18 Happenings in 6 Parts» (1959) des Performance-Künstlers Allan Kaprow. Manche Filme sind auf und hinter faltige Folien projiziert. Verschleierungen, Verzerrungen, Verwischungen – Traumbilder, Schemen der Erinnerung sind das.

Christoph Schlingensief scheint das Theater ad acta legen zu wollen. Vor einer Projektion mit doppelt belichteten Filmszenen aus seiner Kindheit, die er nach dem Tod seines Vaters im vergangenen Frühjahr wieder ausgegraben hat, erklärt er, dass er sich nun wieder stärker auf seine Anfänge als Filmemacher zurückbesinne. Deren Wurzeln lägen in den Normal-8-Filmen des Vaters. Schlingensief erzählt von den Minikinos, die er als Schüler baute, und von unausgepackten, aber entwickelten Filmen, die er kürzlich wie eine Flaschenpost aus seiner Jugend entdeckt hat. Er schwärmt fast von den Doppelbelichtungen, die sich mit diesem Vorgängerformat des Super-8-Films ergaben.

Jenseits der biografischen Anekdote beginnt hier der rote Faden der Ausstellung: Sie ist eine Auseinandersetzung mit der Materialität des Mediums Film. Nicht als Technikgeschichte, sondern als Geschichte von Bildräumen, experimentellen Strukturen, «Bildern, die sich fortschreiben, einander überlagern, auflösen», so Schlingensief. Ihn interessiert der Moment, in dem die Dinge nicht mehr reibungslos laufen, in dem der Film reisst, ins Stottern kommt, sich abnützt. Dann, er sagt das öfter, «beginnt es zu atmen».

In der Installation «18 Bilder pro Sekunde» (2007) – weniger als die üblichen 24, wegen des Stotterns – projiziert er 12 Filme, die in Manaus entstanden, auf die Bäuche von zwölf monumentalen Apostelfiguren. Sie stammen von einem Karnevalswagen aus Manaus. Das Ganze erinnert halb an die Teletubbies mit ihrem Bildschirmbauch, halb an Operationsbilder von geöffneten Mägen. Verdaut und verschlissen wird bei diesem Abendmahl das Medium Film; die Reste liegen wie Reliquien in Vitrinen vor den Aposteln. Der Synkretismus, mit dem hier Religion, Volkstum, Oper, Alltag gemischt werden, ist typisch für Schlingensief – und für sein Interesse «am Raum, den der Film erzeugt».

«Was könnten hier für Texte passen?»

Schlingensief sucht – dafür gibt es in der Schau noch weitere Beispiele – nicht nur nach neuen Präsentationsformen, sondern auch nach dem «Film der Zukunft». Am deutlichsten ist dies in der Installation mit seinem «Animatographen» (2007) und dem auf vielen Screens gleichzeitig projizierten Rohmaterial aus seinem unvollendeten Projekt «The African Twintowers»; Rund 80 Minuten Film hat er bereits zusammengeschnitten, auch sie sind zu sehen. Die Weigerung, sich an konventionelle Erzählmuster zu halten, wird etwa in ironisch eingestreuten Regiebemerkungen sichtbar: «Was könnten hier für Texte passen?», heisst es an einer Stelle.

«Die Geradlinigkeit ist für uns das dominante Prinzip des Erzählens», so Schlingensief. Klar, dass es für ihn das langweiligste ist. Denn es verführt zum «Bebildern». Genau dies will er umgehen, weil es immer auch eine Vereindeutigung mit sich bringt. Es geht ihm um das «Prüfen von Möglichkeiten», um neue Erfahrungen mit dem Geschichtenerzählen. Damit knüpft er an eine lange Tradition des Experimentalfilms an. Und es ist wie mit seiner im «Parsifal» gezeigten Nahaufnahme eines verwesenden Hasen: Für den Regisseur hat Zersetzung mit Erlösung zu tun. Was dem Hasen widerfährt, widerfährt auch den Bildern: Sie werden permanent in einen neuen Aggregatzustand überführt.

Unpolitisch und zahm geworden ist Schlingensief damit keineswegs: Gibt es etwas Politischeres als die Arbeit an Projektionen? Dass sie weniger plakativ ist als seine früheren «Schnellinterventionen», scheint ihm derzeit gerade recht. Schlingensiefs neue Skepsis gegenüber dem medial rasch ausgebeuteten, schnell verpufften Skandal spricht für ihn.

Zürcher Tagesanzeiger, 3.11.07