AUSBRÜCHE AUS DER NORMALITÄT (OBERLÄNDER ZEITUNG)

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Ursprünglich war Christoph Schlingensief Filmer, und zu diesem Metier ist er jetzt wieder zurückgekehrt. Das zeigt seine Ausstellung «Querverstümmelung» im Migros- Museum in Zürich.

Von Karl Wüst

Nichts scheut Christoph Schlingensief mehr als die Endgültigkeit, die Perfektion – oder, wie er sagt: «die Erlösung». Scheitern ist sein Metier, die Aufhebung von Raum und Zeit oder eben die permanente Veränderung der Perspektive. «Meine Arbeit hat immer mit dem Blickwechsel zu tun», sagt er. Aber gerade in der Zerstörung liegt das, was den Künstler vor allem interessiert: die Kreativität, die Neuschöpfung, der Ausbruch aus der Normalität. Das glaubt man Schlingensief aufs Wort. Der Gang durch seine Ausstellung ist wie eine Fahrt durch eine Geisterbahn: Abgedunkelt ist der Weg und voller Überraschungen, Stolpersteine, Unklarheiten, Verwirrungen. Das hat unter anderem damit zu tun, dass man kaum fertige Werke zu Gesicht bekommt, sondern fliessende Gebilde, prozesshaft hingebaute, chaotische Installationen, und vor allem gebrochene, doppelbelichtete Filme und Filmausschnitte.

Weder Skandal noch Provokation

Christoph Schlingensief ist vor allem als Theater- und Opernregisseur bekannt geworden. Meist wird der Name des 1960 im deutschen Oberhausen geborenen Schlingensief mit «Skandal», «Provokation» in Verbindung gebracht. Man denke nur an seine Anti-SVP-Aktion in Zürich von 2001 oder an seine Inszenierungen am hiesigen Schauspielhaus: «Hamlet» (2001) mit ausstiegswilligen Neonazis oder «Attabambi-Pornoland» (2004). Nichts von dem in der Ausstellung, in welcher nur gerade der Titel «Querverstümmelung» allenfalls etwas zu schockieren vermag. Eigentlich seien ja auch Schlingensiefs Theaterinszenierungen in erster Linie bildende Kunst, sagte die Museumsleiterin Heike Munder anlässlich der Eröffnung. Für sie Grund also, den beredten Künstler ins Ausstellungsprogramm aufzunehmen.

Drei Installationen und weitere kleinere Arbeiten hat Schlingensief nach Zürich gebracht: Zuerst betritt man «Kaprow City» (2006), eine mit sechs Kinos ausgestattete installative Hommage an den amerikanischen Künstler Allan Kaprow, den Erfinder der Kunstform «Happening». Darin integriert hat Schlingensief einen doppelbelichteten Film seines Vaters Hermann Josef Schlingensief (1967/68), in dem der Knabe Christoph die Hauptrolle spielt.
Gewaltig steht das «Abendmahl» (2007) im Raum: Jesus und die zwölf Apostel, auf deren Bäuchen zerfallende Kopien von 16-mm-Filmen flimmern. Entstanden sind die Filme in der brasilianischen Stadt Manáos (Manaus) während der Vorbreitungszeit zu Schlingensiefs Operninszenierung von Wagners «Fliegendem Holländer».

Fahrt im Behindertenlift

Die dritte Installation heisst «Gold Maria» (2007). Sie besteht aus den Filmausschnitten «African Twintowers», die Schlingensief in Lüderitz (Namibia) gedreht hat und hier als 80-minütiges unfertiges Filmwerk im Schneideprozess vorstellt, und der «Okularfassung 1 mit Treppenlift». Letztere Arbeit lässt einen schmunzeln. In einem Behindertenlift fährt man die Wand hoch zu einem Kästchen, wo man «ganz für sich» ein Bild betrachten kann. Der Ausstieg aus der Normalität eröffnet neue, individuelle Perspektiven, auch hier.

Bis 3. Februar. Öffnungszeiten: Dienstag, Mittwoch und Freitag 12 bis 18 Uhr, Donnerstag 12 bis 20 Uhr, Wochenende 11 bis 17 Uhr. www.migrosmuseum.ch .

www.migrosmuseum.ch

Oberländer Zeitung, Zürich, 5.11.07