Island und sein Präsident erliegen dem Kunstfieber
Von Harry Bellet, Le Monde, 5.06.05 (Auszug)
(…) Das jährliche Kunstfest von Reykjavik, das am 5. Juni zu Ende gegangen ist, hat sich zum ersten Mal dem großartigen Teil der zeitgenössischen Kunst hingegeben. Da sind ein kriegerischer Wikinger und die Ménine (Zwergin?), Mitwirkende einer Installation von mehreren hundert Quadratmetern Größe, halb Theaterstück, halb Geisterbahn, des Berliner Künstlers Christoph Schlingensief. 1960 geboren, hat er Wien und Bayreuth erfolgreich skandalisiert, indem er Bambiland von Elfriede Jelinek in Szene gesetzt hat, versehen mit einigen Pornoszenen, dann Parsifal, wobei er den Voodookult in Wagners Werk einführte.
Auf bloßes Erschrecken ist der Animatograph nicht aus. Die in Reykjavik vorgestellte Version ist dennoch alles andere als harmlos. Vielmehr ist sie so hintergründig wie ihr Untertitel „Destroy Thingvellir“. Thingvellir ist eine Stätte, die 50 Kilometer östlich der isländischen Hauptstadt angesiedelt ist, wo 930 das älteste Parlament der Welt gegründet wurde, Althing. Auf der Suche nach Erzählungen und Legenden aus aller Welt hat Christoph Schlingensief dort alte skandinavische Sagas reaktiviert.
Später, in einem Bistro, gerät er mit dem Verantwortlichen einer privaten Gesellschaft, DeCode Genetics, in Streit, die von Staatswegen das Recht erhalten hat, eine vollständige Volksdatei zum Zwecke medizinischer Forschung anzulegen: die während Jahrhunderten isolierte, isländische Bevölkerung, so scheint es, ist ob ihrer genetischen Eigenschaften interessant zu beobachten. Das Blut des Deutschen gerät in Wallung, und der Streit droht zu eskalieren. Francesca von Habsburg beruhigt die Gemüter. Ihre Stiftung für zeitgenössische Kunst hat das Projekt „Animatograph“ finanziert, ohne Christoph Schlingensief damit in die Schranken zu weisen. Das ist ihr Verdienst. Ohnehin scheint es unmöglicher denn je, Christoph Schlingensief künstlerisch die Grenzen aufzuzeigen. (…)