Von João Luiz Sampaio
„Halten Sie sich am Sitz fest.“ Nur knapp ist Schlingensief einmal einem Strafprozeß entkommen, als er während einer Kunstaktion gegen Antisemitismus in der deutschen Politik eine Puppe mit dem Antlitz des damaligen Ministerpräsidenten Ariel Sharon verbrannte. In Berlin und London erschuf er eine von Boulevardmedien verseuchte Kunststadt, in der Prinzessin Diana sexuelle Beziehungen mit zwei Mongoloiden hatte und die Königin Elisabeth II. von einer Kleinwüchsigen dargestellt wurde. Um nur zwei aus der Liste der Absonderlichkeiten des deutschen Regisseurs Christoph Schlingensief zu nennen.
In den letzten Jahren wandte er sich dem Werk des deutschen Komponisten Richard Wagners zu. Das Thema änderte sich, das Querdenken blieb. Vor drei Jahren inszenierte er Parsifal, Wagners Oper über das Mittelalter, in Afrika angelegt. Zu Beginn dieses Jahres begann seine Opernkonzeption des Fliegenden Holländers in Manaus im Amazonastheater und endete mit einer Prozession in Richtung Hafen, gemeinsam mit der Trommelfraktion einer Sambaschule. Jetzt war Schlingensief in São Paulo angekommen, um im SESC Belenzinho die Operninstallation Geisterbahn vorzustellen, die gestern zum vorerst letzten Mal geöffnet hatte. Man kann sie als eine Synthese seiner Erfahrungen mit Wagners Werk verstehen, ein sehr interessanter und abwechslungsreicher Ansatz.
Das Publikum war nicht nur zum Opernhören eingeladen, sondern wurde aufgefordert, an der Vorstellung teilzunehmen. In einer Bahn, genau wie in einem Vergnügungspark, konnte der Zuschauer durch die sechs Stationen der Installation fahren, Videoprojektionen – sowohl auf Objekten, als auch auf Personen – betrachten und Wagners Musik hören. Fässer, deformierte Puppen, Gräber, Fernsehgeräte, Clowns, ausgestopfte Tiere waren nur einige der unzähligen Elemente, die den Regisseur interessierten. Mitten im Chaos jedoch, fing man besser am Anfang an: warum Wagner? Sofort kommt einem ein “Schimpfwort” in den Sinn: Gesamtkunstwerk. Wagner ging es darum, neue Vorstellungsformen zu erschaffen, die alle künstlerischen Ausdrucksformen umfassen sollten: Musik, Theater, bildende Kunst, Literatur… Schlingensiefs Arbeit, die diese Referenzen immer aufnimmt, vereint Musik, bildende Kunst, alles.
Schlingensief: „Man sieht ein Bild im Museum an und es ist leer, wir verstehen seinen Wert, nehmen aber nicht mehr an ihm Teil. In der Musik kommt uns eine Rolle im Werk zu, das Kunstwerk involviert uns, während es wiedererschaffen wird. Und auf diese Art wird die Geisterbahn das Publikum mit den verschiedenen Facetten der Installation in Kontakt bringen.”
Als er in Bayreuth, dem Festival der Familie Wagners, arbeitete, so Schlingensief, spürte er eine sehr starke Hierarchie, eine große Vertikalisierung. Mit seiner Arbeit möchte er Wagner in die Vertikale zurück befördern. Das ist ihm mit Geisterbahn vollends gelungen, wie auch die Zuschauerreaktionen an allen Ausstellungstagen zeigten. Schlingensief selbst spricht aber trotzdem von einem „Prototypen“, er will weiter an der Oper „bauen“.
Schlingensief: “Wagner hat zu seiner Zeit an verschiedenen Quellen getrunken und diese verschlungen, um sein Werk zu erschaffen.” Dies hat Schlingensief nun auf beeindruckende Weise mit ihm gemeinsam.
Estado de São Paulo, 04.12.07