„Wer, wenn nicht sie? Schauspieler, Herr Regisseur Schlingensief, sind die Seele des Theaters!“ Die „Generation Zeitungspraktikum“ meldet sich live aus dem Max-Reinhardt-Seminar zum Zustand des deutschen Theaters
Von DIETER BARTETZKO
In einem Interview mit dem Magazin „Monopol“ hat Christoph Schlingensief, unter anderem bekannt als Regisseur, seinen Rückzug vom Theater erklärt. Als einen Grund nennt er „diese angestrengten Typen, die meinen, sie wären heute Abend Hamlet und morgen Faust. Ich kenne sie alle aus der Kantine, sie saufen und erzählen von früher . . . Ihre Nasen sind rot und großporig, ihr Anspruch an die Gesellschaft ist größer als ihr Einfluss.“ Schlingensief, so muss man daraus schließen, hat sich zu oft in der Kantine und zu wenig auf der Bühne umgesehen.
Man nehme als Beispiel Frankfurt am Main. Zwar glänzen die dortigen Städtischen Bühnen seit langem nicht mehr durch Regisseure, sie erregen allenfalls mitunter Aufsehen, exakter: Aufsehenchen in puncto Krakeel. Mit einer Ausnahme: die gefeierte Inszenierung der „Orestie“ des Aischylos. Deren Regisseurin ist Karin Neuhäuser. Und die wiederum ist auch eine exzellente Schauspielerin. In der vergangenen Spielzeit riss sie als Mrs. Peachum eine Dreigroschenoper-Premiere aus der Belanglosigkeit; eine königlich verschlampte Schnapsdrossel, deren gurgelndes „Denn wovon lebt der Mensch?“ so durch Mark und Bein ging, als hätte Brecht die Frage gestern erst gestellt. Ihr Gatte Peachum war Joachim Nimtz, ein bulliger Typus, der, wenn’s darauf ankam, Shimmy so aasig graziös wie ein Tingeltangel-Nurejew tanzte, als Sprecher vor Zynismus erfrieren lassen konnte und blendend sang. Und Wolfram Koch, als Mackie Messer sangesunfähig und damit am Rande einer Fehlbesetzung, setzte sich offenbar nicht beleidigt in die Kantine, sondern besann sich auf die Möglichkeit des Sprechgesangs und brilliert mittlerweile.
Lessings „Emilia Galotti“? Von der Regie zum Tanzbärenreigen verballhornt, aber sehenswert dank der jungen Anne Müller, die die Titelfigur wie in Trance spielt und so das Publikum bannt. Victor Hugos „Lucrezia Borgia“? Die Regie steckte Friederike Kammer als Titelfigur in eine Renaissance-Schabracke, stülpte ihr eine blonde Perücke mit Mausefaden-Locken über – und schaffte es doch nicht, ihr Können auszumerzen. Shakespeares „Was ihr wollt“? Zur Ballermann-Klamotte erniedrigt. Man hätte das Theater verlassen, wäre da nicht der junge Oliver Kraushaar gewesen, dessen Malvolio zum Heulen gut und Brüllen komisch einen speichelleckenden Muskelprotz vorführte, den ein einziges Mal wahre Liebe zum Mann gemacht hätte.
Ob einer der genannten Akteure eine großporige rote Nase besitzt? Keine Ahnung, dafür spielen sie allesamt viel zu gut. Was für Frankfurt gilt, gilt cum grano salis für jedes Theater. Auf der Bühne beweist sich, ob ein Schauspieler, mag er abseits der Bretter noch so sonderbar, eitel oder naiv sein, ein Schauspieler ist. Durch ihn lebt das Theater. Es war Max Reinhardt, das Regie-Genie des zwanzigsten Jahrhunderts, der schrieb, dass „dem Schauspieler und keinem anderen das Theater gehört“. Und es könne, so schrieb Reinhardt weiter, „von guten Geistern verlassen, das traurigste Gewerbe, die armseligste Prostitution sein“. Dass dies momentan so oft zutrifft, liegt gewiss nicht an den Schauspielern, sondern an Regisseuren, die nicht mehr wissen, was Schauspieler sind. So gesehen, hat Christoph Schlingensief absolut recht, wenn er sagt: „Theater war noch nie mein Ding.“
Text: F.A.Z., 04.01.2008, Nr. 3 / Seite 40