In Berlin ist die Oper Jeanne DArc – Szenen aus dem Leben der heiligen Johanna von Walter Braunfels zu sehen. Das Stück wurde nach Aufzeichnungen des erkrankten Regisseurs Christoph Schlingensief inszeniert. Marry Mills in der Rolle der Johanna und Daniel Kirch als Karl von Valois.
Von Manuel Brug
Endlich. Die Deutsche Oper Berlin – und damit auch ihre umstrittene Intendantin Kirsten Harms – hat ihren seit Langem dringend nötigen großen, unstrittigen, von einem illustren Publikum bejubelten Premierenerfolg.
Und das weder mit einer krampfigen Kernrepertoire-Moderniserung noch mit einem der dort so beliebten italienischen Veristen aus der dritten Reihe. Dafür mit der gewagten, aufwendigen szenischen Uraufführung der „Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna“ von Walter Braunfels, einer 66 Jahre alten Oper, die eindrucksvoll vorführt, dass es in den braunen Jahren deutscher Geschichte auch noch ein anderes Komponieren für das Musiktheater gab als Carl Orffs effektvoll simplifizierte „Carmina Burana“-Ostinati (1937) oder Richard Strauss’ ästhetisierende Glasperlenspielerei „Capriccio“ (1942).
Und mehr noch: Man feierte mit Christoph Schlingensief einen Regisseur, der gar nicht da war, der keine Probe selbst geleitete hatte, dessen Sterberitual-Konzept diesem ungewöhnlichen Werk dennoch seinen eigenwilligen optischen Stempel aufgedrückt hatte. Ein typisches Paradox dieser kaum fassbaren, in schwer trennbaren Bereichen zwischen privater Mythologie und öffentlicher Zurschaustellung agierenden und agitierenden Künstlerseele.
Einst hatte er auf der Documenta 1997 zum „Tötet Helmut Kohl!“ aufgerufen. 2003 thematisierte er jeden Streit und jede gesundheitliche Schwächung während seines „Parsifal“ in Bayreuth, anschließend verarbeitete der Regisseur die Querelen mit dem Wagner-Clan in seinem Stück „Kunst und Gemüse“ an der Berliner Volksbühne. Jetzt zeigt er sich in dieser besonderen Situation plötzlich verwundbar – um auch in der „Heiligen Johanna“ eben diesen Zustand auf die sich beständig drehende Bühne zu bringen, die mit dreifach gestaffelten Projektionen als Zentrifuge und Lebensstationenkarussell funktioniert.
Da ist der Flammentod der Märtyrerin gleich zu Anfang krass als Film über tibetanische Leichenverbrennungen präsent. Da sieht man das Gefängnis der heiligen Johanna als Krankenhaus, in dem Pflegepersonal, aber auch der ganze Kostümkatalog katholische Würdenträger herumwuselt. Da fährt Johannas Vater als Heiliger Nikolaus im Schlitten samt Rentier vor, auf dem ein Schild klebt: „Nach Aufzeichnungen von C. Schlingensief“.
Immer wenn Johanna ihre Visionen hat und zu Gott fleht, senkt sich ein ausgedörrter Bronchialbaum herab. Und ihr monströses, im finalen Feuer angeblich unbrennbares Herz wird als monströses Fetischobjekt angebetet; so wie der tote Hase im „Parsifal“. Der liegt als stille Schlingensief-Erkennungsmarke ausgestopft neben dem Projektor (der auch Aufnahmen von Schlingensief selbst auf die Leinwände wirft) auf dem Souffleurkasten.
Eine unter schwierigsten Bedingungen herausgekommene Premiere eines hoch komplizierten, gewichtigen Werkes. Der man in keinem Moment die Anstrengung anmerkte. Da wurde die komplexe, vor allem die Bläser immens fordernde Partitur großartig musiziert, obwohl der nimmermüde Dirigent Ulf Schirmer mit vielen falschen Noten im Aufführungsmaterial und Abstimmungsproblemen zu kämpfen hatte. Da sangen die Chöre mit nie nachlassender Stimmkraft. Und da war jeder der vielen Solisten in dem für sie unbekannten Werk richtig und vokal gut klingend besetzt.
Unter Mitwirkung und nach Aufzeichnungen von Christoph Schlingensief“ hat nun ein dreiköpfiges Regieteam unter Führung des Dramaturgen Carl Hegemann Schlingensiefs Vorgaben umgesetzt. Man stand mit dem Regisseur per Videokamera und SMS im Kontakt – und das Geschehen trägt auch durchaus seine unverwechselbare, katholisch aufmüpfige Handschrift.
Es gibt die Zwerge und Behinderten seiner Bühnen-Family, diesmal auch störrische Ziegen und ein meckerndes Schaf. Die Stellwände und Podeste auf der Drehbühne sind mit seinen Bildmotiven und Schriftzeichen versehen. Die Filme wirbeln alles in einem gewaltigen Mahlstrom der Bilder durcheinander, doch die (etwas kürzungsbedürftige, sich bisweilen dramaturgisch wiederholende) Bühnenaktion wird davon nicht zu sehr überlagert. Es stellte sich aber auch nicht – wie beim Bayreuther „Parsifal“ – diese halluzinogene Aufhebung des Raum-Zeit-Gefühls ein.
So gelang ein doch viel rationalerer Opernabend – angemessen aber auch Walter Braunfels’ in der inneren Emigration verfasster, nur für sein inneres Ohr hörbarer, erst 2001 in Stockholm konzertant uraufgeführter Partitur, die dumpf und schwer daherkommt, und doch ein abwechslungsreiches, individuell tönendes Klangbild bietet.
Erst im zweiten Teil, mit der Krönung Karls VII. in Reims und der Auseinandersetzung mit Gilles de Rais, dem späteren Kinderschänder und Serienmörder, aber eben auch Marschall von Frankreich, Kriegsheld und (wohlmöglich) Johanna-Vertrauten, gewinnt dieser locker gewirkte Bilderbogen an Vehemenz und Substanz.
Der Damien-Hirst-Totenschädel taucht auf
Hier wird es dann bildkräftig, die Figuren entwickeln griffigere Konturen. So gelingt Walter Braunfels eine Fassung, die sich deutlich abheben von den Opernvariationen Verdis, Tschaikowskys und Honeggers (im Verein mit Paul Claudel) über die „Pucelle d’Orleans“, jenes legendenhafte, von seinen Engelsvisionen getrieben sich zur politischen Retterin eines schwachen, von England bedrohten Frankreichs aufschwingenden Bauernmädchen aus dem lothringischen Domrémy. Besonders die beiden männlichen Hauptrollen profitieren, der markante Morten Frank Larsen als Sternenkrieger Gilles mit Damien-Hirst-Brillantschädelhelm und der spielfreudige Daniel Kirch als König Karl im Sarg, dem zudem noch ein behinderter Tänzer beigegeben ist.
Die himmlischen Heiligen lässt das Inszenierungsteam auf Krankenbahren erscheinen, von Aino Laberenz in schwarze Glitzerroben gekleidet. Auch die famos und leuchtend schön, dabei kraftvoll singende Mary Milles als Jeanne d’Arc liegt auf der Intensivstation, die ihr zugleich Zelle ist. Viel konkreter, anekdotischer als sonst bei einem Original-Schlingensief schreitet sie wirkungsbewusst durch die Szenen über „Berufung, Triumph und Leiden“.
Sie trinkt mit ihrem Vater Kaffee im Plastikgartengestühl vor dem Großfoto seines Fertighauses. In einer nachgestellten Abendmahlszene sieht sie Jesus gen Himmel schweben. Am Ende steht sie – obwohl es auch drei aufgeschichtete Holzstöße gibt – schwarz verkokelt in einer dreistöckigen Hochzeitstorte und entzündet selbst die Funken sprühenden Wunderkerzen.
Man wird dieses so seltsam aus der Zeit gefallene und dann doch durch seine musikalische und inhaltliche Lauterkeit anrührende Werk sicher auch einmal anders inszenieren müssen. Die sich allmählich ein wenig abnützende, weil optisch zu wenig variationsfähige Methode der Schlingensief-Factory hat dem Werk bei seiner schweren Bühnengeburt mehr genützt als geschadet. Allzu Deutliches wurde in verfremdende, mal ironische, mal schräge Bilder umgesetzt. Aber der Jubel über diese „Johanna“ war ungetrübt.
28. April 2008