Die Mühe hat sich gelohnt: Schlingensiefs „Johanna“ an der Dt. Oper Berlin
Von Gerhard R. Koch
Der Satz des amerikanischen Malers Willem de Koning, die Kunstgeschichte beeinflusse nicht ihn, sondern er die Kunstgeschichte, gilt generell für das Widerspiel von Vergangenheit und Gegenwart, gerade in der Musik. Selbst die Darmstädter Schule der fünfziger und sechziger Jahre war keineswegs homogen. Erst recht hat die Postmoderne die Avantgarde-Kriterien vielfältig relativiert. Deshalb ist es nicht nur wohlbegründete Wiedergutmachung, wenn in der NS-Zeit verfemte, vertriebene und ermordete Komponisten wie Schreker, Zemlinsky, Korngold, Ullmann, Schulhoff oder Max Brand wieder aufgeführt werden, denen ihre jüdische Herkunft 1933 zum Verhängnis wurde.
So ging es auch Walter Braunfels, der als Rektor der Kölner Musikhochschule hoch angesehen war. Er musste zwar Deutschland nicht verlassen, verlor aber alle Ämter, durfte sich nicht mehr öffentlich betätigen, überlebte immerhin in der „inneren Emigration“. Zwischen 1945 und 1954 konnte er zwar an frühere Erfolge anknüpfen, doch das musikalische Klima hatte sich gewandelt: Er galt nun als „Traditionalist“, war kaum mehr als eine geachtete Randfigur, ähnlich wie Berthold Goldschmidt, der nach der englischen Emigration bitter feststellen musste, dass der politischen Ächtung nun die ästhetische Verdrängung folgte.
Geschichte als flammender Horror
Braunfels hat, allen Repressalien zum Trotz, nach 1933 weiter komponiert, sogar als Hauptwerk 1938 bis 1942 die „Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna“. Nach konzertanten Aufführungen in Stockholm und München brachte die Deutsche Oper Berlin nun die szenische Premiere. Das „Jeanne d’Arc“-Sujet entsprach nicht nur Braunfels‘ Konversion zum Katholizismus, sondern reflektierte auch den NS-Terror: Macht- und Siegesrausch, Verfolgung und Mord sind die Themen, Geschichte als blutig-flammender Horror. An „Johanna“-Dramen, -Opern und -Filmen fehlt es nicht; bedeutendste Adaption bleibt Dreyers epochaler Stummfilm, basierend auf den Prozessakten von 1431. Auf diese griff Braunfels für sein Libretto ebenfalls zurück. Vor allem setzte er einen neuen Akzent, indem er die Rolle des Gilles de Rais entschieden aufwertete, indem er aus dem Kampfgefährten der Heiligen einen Gott- und Sinnsucher machte, der des Heils als Mittel wider die dunklen Mächte in ihm bedarf und erst nach Johannas Ende zum Unheil wird.
Die Berliner Uraufführung konfrontierte mit einem textlich wie musikalisch fesselnden Stück, das einmal mehr belegte, wie wichtige Komponisten dem ominösen „Urteil der Geschichte“ zum Opfer fielen: auch eine ästhetische Passionsgeschichte. Braunfels schrieb eine große Oper mit ausladenden Chorpartien und plastisch differenziertem Relief. Mit archaisierendem Pseudo-Mittelalter hält sie sich zurück, wahrt trotzdem einen herben Duktus, dessen Espressivo gerade in der Sparsamkeit beredt ist, etwa in den Halbton-„Johanna“-Seufzern des Schlusses. Auch wenn dieser im „Lohengrin“-A-Dur steht, fehlt ihm doch alles Apotheotische.
Im Kräftefeld der Heilserwartungen
Braunfels‘ Oper „vom Blatt“ zu inszenieren hätte das Stück zum Historien-Spektakel entwertet und die Perspektiven verengt. So war es ein Segen, dass Christoph Schlingensief sich mit dem Stück identifizierte und es als Heils-Pandämonium konzipierte, ein ikonographisches Puzzle mehr in der Bosch-Buñuel-Tradition als im Mittelalter-Bild, darin gleichwohl sehr katholisch. Wie bei seinem Bayreuther „Parsifal“ hat Schlingensief filmisch-surrealistisch disparate Schichten übereinanderkopiert: ein Gewirr von Bedeutungsebenen, multipler individueller Mythologien. Die plane Legende interessiert ihn nicht im mindesten.
Schlingensief setzt nicht nur auf die Schreckens-Szenen, sondern auch aufs Kräftegeschiebe der Heilserwartungen. So konterkariert er eingangs Johannas Flammentod mit Filmaufnahmen der Totenverbrennung in Nepal, wobei sich Bilder eines anderen Verständnisses von Leben und Sterben, Alltag und Touristengetriebe verwirrend amalgamieren. Nun sind Ketzerverbrennung und Leicheneinäscherung nicht vergleichbar, doch Schlingensief geht es um verschiedene Aggregatzustände religiösen Wahns, wüste Verformungen der Wirklichkeit, Zeitreisen zwischen 1430 und heute.
Groteske Liturgie
Und alle sind Freaks. Gilles de Rais, der „Blaubart“, höllische Kinderschänder und -mörder, trägt eine Goldmaske und erstrebt das Heil; doch wenn bei der stroboskopüberzitterten Krönung in Reims ein Riesenherz, Johannas nicht verbranntes, enthüllt wird, kann er seine kannibalistische Gier kaum zügeln. Dem König ist ein Double zugesellt, halb Lustknabe, halb Spastiker, Johannas braver Vater mutiert zum Bischof, der zeitunglesend in der Kutsche fährt, derweil per Video das Haus im Grünen winkt. An solchen Doppel-Kodierungen mangelt es nicht. Und selbstverständlich changiert Johanna vom Landmädchen im weißen Hemd zur Heroine, dann zum Opfer der Weißkittel – und ihr Scheiterhaufen zur Riesentorte, dem sie bonbonfarben drapiert, gleichwohl schwarz entsteigt.
Das Ganze wirkt wie eine Summe liturgischer Rituale, die sich gegenseitig grotesk relativieren. Gezielte Verkleinerungen und Vergrößerungen gehören zum Prinzip ständiger Transformationen, geben dem Abend sein unheimlich Unberechenbares. Wunder geschehen, aber anders als erwartet. Insofern war es ein bewegender Theaterabend, ein manieristisches „Concetto“ gewiss, aber von intensivem Ernst. Schlingensief, erkrankt, konnte die Proben nicht leiten; aber ein Team ihm Verpflichteter hat hingebungsvoll seine Intentionen befolgt und weitergeführt. Das Ergebnis spricht für sich.
Zugleich war es ein beredtes Zeugnis des Leistungsvermögens der Deutschen Oper. Ulf Schirmer realisierte die Partitur, bei schwieriger Materiallage, mit Orchester und Chor nachdrücklich, brachte die Musik eindringlich zum Sprechen und machte zeitbedingte Schwächen vergessen. Die Riesenpartie der Johanna wurde von Mary Mills vokal wie in der Bühnenpräsenz mit großer Identifikationskraft, gerade in den Brüchen, bewegend realisiert, Morten Frank Larsens Gilles de Rais war nicht nur baritonal imposant in seiner Zerrissenheit, Lenus Carlsons Trémouille war ein markanter Realo-Zyniker, Daniel Kirch ein schwächlich dandyhafter König. Die Mühe hat sich gelohnt.
30.8.2008