Performer vor dem Herrn: Christoph Schlingensief feiert bei der Ruhr-Triennale sieben Monate nach seiner schweren Krebsoperation seine Wiederkehr. Dabei verwandelt er das Stahlwerk in eine Kirche.
Nachts tragen die Schornsteine der stillgelegten Schwerindustrie einen Heiligenschein. Es sind die grün-blauen Positionslichter über dem Landschaftspark Duisburg-Nord, sie weisen Flugzeugen und verlorenen Seelen den Weg. Vor hundert Jahren glühten hier fünf Hochöfen, jetzt sitzt man, in der neoromanischen Gebläsehalle des alten Stahlwerks, auf Kirchenbänken und erlebt ein bizarres, aufwühlendes Hochamt.
Christoph Schlingensief feiert seine Wiederkehr. Sieben Monate nach der schweren Krebsoperation inszeniert er für die Ruhr-Triennale mit seinem treuen Dramaturgen Carl Hegemann „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“. Er verwandelt das Stahlwerk in ein Gotteshaus, mit einem Altar und einer Monstranz, die das Röntgenbild des 47-jährigen Künstlers zeigt. Den Schattenriss einer Lunge, der ein Flügel fehlt.
„Der Fremde“, das ist der Krebs. Die Angst: Sie ist jetzt sein Leben. Und diese Kirche, die Schlingensief mit einem Kinderchor und Gospelsängern, mit Filmprojektionen, Opernfetzen, Schauspielszenen füllt, hätte man früher, als die christliche Religion noch militant war, als Ketzerveranstaltung gebrandmarkt.
Wer will das aber entscheiden, was bei Schlingensief Blasphemie ist – oder Gottessuche. Er ist so wütend auf die Krankheit, so tief gekränkt über den Krebsbefall seines Körpers, dass er dem Himmel eine Voodoo-Messe schenkt. Eine katholische, barocke, archaische, streng improvisierte Kunstmesse, ein „Fluxus-Oratorium“, das Joseph Beuys anruft: „Wer seine Wunde zeigt, wird geheilt.“ Auf dem Altar: ein ausgestopfter Hase. Inbrünstig wird gebeichtet („Ich hab es eigentlich immer gut gemeint, ich habe immer nur Gutes gewollt. Ich habe das Gute gesucht und ich habe es nicht böse gemeint“), es wird geschrien und geweint und gebetet, Möglichkeiten der Selbsttötung werden durchgespielt: „Ich werd die Entscheidung treffen müssen, ob ich mir in den Kopf schieße, hab keine Pistole, ob ich in die Badewanne steige und mach mir einfach die Adern auf oder ob ich irgendwie aus’m Fenster falle, dazu ist es hier nicht hoch genug.“
Schlingensief hat diese Texte in der Klinik in ein Diktiergerät gesprochen, nachts. Protokolle einer Auferstehung: „Wir gedenken des zukünftig Verstorbenen . . .“ Er ist auch wieder da, der alte Schlingensief’sche Chaos-Humor. Vor allem aber sind diese anderthalb Stunden in der Duisburger Gebläsehalle, im Zeichen der wunden Lunge, eine ungeheure Energieausschüttung.
Er zieht sich an den eigenen Haaren aus dem medizinischen Sumpf. Er ballert die Sinne zu, er greift nach den Herzen der Zuschauer, die sich hier in einer temporären Gemeinde versammeln. Schlingensief ist gewiss nicht der Erste, der Religion als Echoraum entdeckt. Beim Berliner Musikfest haben gerade Messiaen, Stockhausen und Bruckner, die katholischen Klassiker, eine begeisterte Neubewertung erlebt. Das Münchner Haus der Kunst zeigt „Spuren des Geistigen“, an der Komischen Oper Berlin hat am Wochenende ein „Requiem“ Premiere. Als Thema eines sonst orientierungs- und tabulosen Kulturbetriebs hat sich der Glaube wieder ausgebreitet. Doch Christoph Schlingensief, der Performer vor dem Herrn, geht tiefer.
Mit seiner gesamten Existenz hat er sich in diese Produktion geworfen. Sie ist ein radikaler Lebensbeweis. Eine Selbstmitleidsorgie – und doch weht in den Schlingensief’schen Zeremonien ein Geist der Bejahung. Hier spricht einer vom Kranksein und vom Sterben, aber es ist kein Arzt, kein Seelsorger, kein Psychologe; keiner mit einem trainierten Vokabular. Schlingensief tröstet nicht, belehrt nicht. Er reckt die Faust.
Einmal lässt er in seiner Kirche vom Heiligen Duisburger Gebläsegeist die ganze Kongregation von Chorsängern, Ministranten und seltsamen Würdenträgern rückwärts laufen, weg vom Altar. Als wollte er die Zeit umdrehen, den Krebs zurückverfolgen bis zu seinem Ursprung. Und einmal dann, schon gegen Ende, steht er selbst im Getümmel. ChristophChristus. Das letzte Abendmahl, oder das erste eines neuen Lebens. Er bricht das Brot, aber auch dieser Moment ist nicht blasphemisch. Da will einer was wissen von Gott, und er geht den direkten Weg, bedient sich der Rituale, die in der Amtskirche oft so abgespielt wirken.
Duisburg ist sein einmaliges Oberammergau. Und wenn es fast unerträglich wird, das protokatholische Gesummse, das Ich-hänge-am-Kreuz und Hab-Erbarmen-mit-mir, dann schreit Schlingensief das Zauberwort Fluxus heraus. Hostien fliegen, alles läuft wie angestochen auseinander, der Tempel rockt.
Schlingensief, der Schamane des Ruhrgebiets. Hier um die Ecke, in Oberhausen, ist er geboren. Hier hat er vor zwanzig Jahren seine Kettensägen-Saga gedreht. Hier hat sein Vater, ein Apotheker, jene Super-8-Filme aufgenommen, die man in der „Kirche der Angst“ jetzt sieht. Der kleine Christoph, bald ein Messdiener, mit dem Spielzeuggewehr. Bewegte Bilder von Unschuld und Schmerz. Vom Urlaub am Strand. Selbst nach all den körperlichen und psychischen Torturen ist noch etwas geblieben von dem Jungen in den kurzen Hosen. Vielleicht wollte Schlingensief deshalb nie erwachsen sein, vielleicht hat er deshalb all diese surrealen Spektakel veranstaltet – weil Erwachsensein bedeutet, dass man auf den Tod zugehen muss.
Auf der Bühne spielen Angela Winkler und Margit Carstensen die Mutter – und den Sohn. Sie sprechen die Schlingensief-Protokolle mit klinischer Kühle, und sie transzendieren die Geschichte dieses Egos. Margit Carstensen liegt als Patient CS im Krankenhausbett, überall Röntgenbilder der Lunge. In der aufgelassenen Thyssen-Stahlhütte. Lungenkrebs. Schlingensief hat die alte Seuche des Ruhrgebiets. Wie könnte man das vergessen?
Schon immer waren seine Aktionen wüste Läuterungsversuche, manches Mal auf Kosten seiner behinderten Mitspieler, die er diesmal viel sensibler einsetzt. Und er scheut nicht vor einfachen Symbolen zurück: Dutzende Metronome ticken, ticken – und verstummen nach und nach.
Es ist so viel hineingekommen in diesen Abend, der wie ein Manifest wirkt. Und wie die Blaupause, das Skelett der „Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna“. Schlingensief hat die szenische Uraufführung des Walter-BraunfelsWerks im April an der Deutschen Oper Berlin vom Bett aus mitdirigiert. Wieder sieht man jetzt den brennenden Leichnam aus Nepal. Die Flammen, die um den Kopf züngeln; ein erschreckendes und ebenso friedliches Bild. Schlingensief hat diese Aufnahmen letztes Jahr im Himalaya gemacht, da wusste er noch nichts von der Krankheit, von dem inzwischen schon so schrecklich vertrauten „Fremden“ in ihm. Wieder auch die Überblendungen von Film und Bühnenrealität, diese seltsame Mehrfachbelichtung der Klänge und Bilder. Kitsch, Kampf, Kommunion.
„Viele sind tot. Viele sind untot. Uns hat man jedenfalls noch nicht beerdigt.“ Ein unheilvoller Orgelton. Das Bild eines verwesenden Tierkadavers im Zeitraffer; da rast die Zeit vorwärts. „Bitte nicht berühren“, so hört man Christoph Schlingensief am Anfang und am Ende schreien, mit tränenerstickter Stimme. Noli me tangere. Wer wollte, der könnte niederknien, dafür sind Kirchenbänke da. Aber „Jesus ist trotzdem nicht da, Maria auch nicht“, so klagt, schimpft und flucht es immer wieder durch die pneumatische Behelfskirche, wo einst Hochofenwinde zur Roheisenschmelze erzeugt wurden.
Hitze, Strom, Kohle, flüssiges Metall. Fluxus. Die Industrieanlagen, die jetzt der Kultur dienen und die ein Schicksal hatten, das auch den Kirchen bevorstehen kann: museale Leere. Schlinge bringt alles zusammen. „Bitte nicht berühren.“ Aber er, er hat berührt.
Von Rüdiger Schaper
Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 23.09.2008