REQUIEM FÜR EINEN PROVOKATEUR (SPIEGEL ONLINE)

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Die Sängerin Patti Smith und der schwer kranke Regisseur Christoph Schlingensief debattierten über Kunst und Religion.

Patti Smith rülpst ins Mikrophon und rutscht auf dem schicken Konstantin-Gricic-Stuhl herum. Sie grinst und sagt, provozieren könne heutzutage jeder. „Ich könnte hier vorne hinscheißen. Jetzt sofort.“ Der Skandal wäre perfekt – doch sie selbst würde sich dabei nur langweilen. Viel lieber ist sie an diesem strahlend schönen und klirrend kalten Sonntagnachmittag ins vollbesetzte Münchner Haus der Kunst gekommen, um mit ihrem engen Freund Christoph Schlingensief über die Verbindung von Kunst und Religion zu sprechen, über Ekstase und Spiritualität. Und, natürlich, über den Tod.

So viel wird schnell klar: Dies ist kein x-beliebiges Gespräch zwischen zwei bekannten Persönlichkeiten über Gott und die Welt und über die Kunst, wie sie regelmäßig in deutschen Museen stattfinden. Hier begegnen sich nicht nur eine Punk-Ikone und ein Theater-Berserker, sondern auch zwei von Tod und Schmerzen gezeichnete Menschen. Zwei Ausnahme-Künstler, die sich und ihr Publikum an der Seele zu fassen verstehen und auf ihre unnachahmliche Weise eine ungewöhnliche vorweihnachtliche Andacht zelebrieren.

Foto: Marino Solokhov

Patti Smith verlor im Laufe ihrer langen Karriere nicht nur geliebte Menschen wie ihren Freund Robert Mapplethorphe und ihren Ehemann, den Musiker Fred „Sonic“ Smith, sondern machte eine Nahtoderfahrung, die sie dem Jenseits näher brachte.

Christoph Schlingensief muss dem Tod, „der ganzen Scheiße“, wie er es nennt, ganz direkt ins Gesicht sehen, seitdem er im Januar 2008 erfuhr, dass er an einer besonders heimtückischen Art von Lungenkrebs erkrankt ist. Ihm wurde bereits der linke Lungenflügel entfernt, eine Chemotherapie folgte.

Schmal und ernst sitzt er auf dem Podium. Sein christliches Bild habe sich im Laufe des Jahres gewandelt, sagt er, der frühere Messdiener und „Provokationsprofi“, bei dem nie klar war, ob er wirklich an Gott glaubte oder ob er ihn nur für seine Kunstproduktion benutzte. Dafür schlachtete er auf der Bühne viel zu gerne die heiligen Kühe der Gesellschaft. Er ließ sein Publikum die geografische Lage von KZs raten, forderte „Tötet Helmut Kohl“ oder zeigte Pornos im Wiener Burgtheater.

Darf man sich selbst so wichtig nehmen?

Der Apothekersohn aus Oberhausen verwurstete alles und jeden für seine respektlosen Aktionen – und stieg zum gefeierten und gehassten, auf jeden Fall aber stets vieldiskutierten Star auf. Als er krank wurde, gab es für ihn selbstverständlich nur den Weg, sein Leiden, seinen Schmerz und seine Todesangst öffentlich auszustellen. Nicht umsonst zitierte er sein Vorbild Joseph Beuys: „Wer seine Wunden zeigt, wird geheilt. Wer sie verbirgt, wird nicht geheilt.“

Darf man sich selbst so wichtig nehmen, fragten viele Kritiker schwankend zwischen Befremden und Rührung nach seinen beiden letzten Inszenierungen „Kirche der Angst“ und „Der Zwischenstand der Dinge“. In beiden trat er als Hohepriester in eigener Krankensache auf, in beiden inszenierte er schon mal seine eigene Totenfeier.

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Hört man ihn in München atemlos und konzentriert sprechen, wird einmal mehr klar: In Schlingensiefs Kosmos muss das sogar sein, es gibt keine Trennung zwischen Künstler und Mensch, zwischen öffentlich und privat. Gesellschaftlich erwünschte Verhaltensweisen wie Pietät oder Zurückhaltung existieren in seiner Welt nicht, alles muss raus. Egal, ob durchdacht, angedacht oder einfach nur spontan durch den Kopf geschossen. Auch falsch darf gedacht werden, das war bei Schlingensief schon immer so. Hauptsache, es passiert etwas: „Volle Angst voraus“, so der Titel seines öffentlichen Wander-Tagebuchs.

Und so steigert sich Schlingensief in eine lange, emotionale Rede hinein. Er spricht von seinem „Fight“ mit Jesus, der ihm jedoch immer sympathischer werde. Davon, dass er Liebe zeigen will, indem er sich als Wrack präsentiert. Er fragt sich: „Wie stirbst du denn mal, demnächst? Sitzt da ein Mann mit Bart, wenn ich in den Himmel komme?“ Davon, dass er weiterleben will und keinen Grund sehe, hochzufahren, wie schwer es ihm falle, seine Freundin zu verlassen. Denn: „So schön wie hier kann es im Himmel gar nicht sein.“

Er spricht so lange, bis seine Stimme bricht, bis es im Saal ganz still geworden, bis seine Verzweiflung auch in den letzten Reihen spürbar geworden ist. Patti Smith, die neben ihm sitzt und kaum ein Wort verstanden hat, sagt, sie habe gespürt, was er gesagt habe und es erinnere sie an Allen Ginsberg, der ebenfalls nicht gehen wollte und dessen Seele, selbst als sein Körper schon tot war, noch lange Zeit im Raum geschwebt habe.

„Als Künstlerin kann ich alles sein: liebend, blasphemisch, eine Diebin, eine Verbrecherin“, sagt Patti Smith, „als Mensch versuche ich so gut wie möglich zu sein.“ Christoph Schlingensief dagegen hat sich als Mensch und als Künstler immer herausgenommen, alles zu dürfen, und das tut er noch immer. Der Unterschied zu früher ist nur, dass sein eigener, von der Krankheit gezeichneter Körper ihm enge Grenzen setzt. Und das ist nur schwer zu akzeptieren, von ihm und von seinen Zuschauern.

Zum Schluss holt Patti Smith ihre Gitarre und singt mit wunderschöner klarer Stimme für ihren Freund den Song „Grateful“. Christoph Schlingensief sitzt einfach da, blickt sie an und hört zu. Und das Publikum macht – mit ihm zusammen – eine stille Erfahrung des Schmerzes.

Jenny Hoch, SPIEGEL ONLINE vom 15.12.2008
Fotos: Marino Solokhov