Der Theater- und Filmemacher Christoph Schlingensief über seinen Lungenkrebs, den Umgang mit dem drohenden Tod, Kritik an seiner Kunst und den Fluch, stets gute Stimmung verbreiten zu wollen.
SPIEGEL: Herr Schlingensief, in Ihren jüngsten Theaterarbeiten „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ und „Der Zwischenstand der Dinge“ haben Sie aus dem Kampf gegen Ihre Krebserkrankung grandiose, hochgelobte Kunstfeiern gemacht. Wie steht es aktuell um Sie?
Schlingensief: Der Stand ist, dass ich circa zehn neue erbsengroße Metastasen habe in dem einen Lungenflügel, der mir nach meiner Operation geblieben ist. Das sieht nicht gut aus. Diese Metastasen sind sehr schnell gekommen, damit hat keiner gerechnet. Das ist auch für die Ärzte unbegreiflich. Bei der anderen Lunge hat der Krebs drei, vier Jahre gebraucht. Ich war gerade dabei, wieder ins Leben zurückzukommen. Das Krankenhaus hatte schon Entwarnung gegeben, aber dann haben sie das Röntgenbild genau angeguckt und ließen mich noch mal kommen.
SPIEGEL: Sie schienen fast euphorisch, als Sie im September nach Operation und Chemotherapie in der „Kirche der Angst“ bei der Ruhrtriennale in Duisburg selber auftraten. Wie schwer hat Sie die schlechte Nachricht jetzt getroffen?
Schlingensief: Es ist so eine Scheiße mit dieser Krankheit! Meine Freundin Aino und ich waren in den Wochen zuvor durch die Gegend gelaufen, wir haben mit neuer Kraft gearbeitet und dachten: Zwei, drei Jahre können wir das Leben wieder genießen. Wenn nicht sogar mehr. Und jetzt? Wir weigern uns, jeden Tag so zu genießen, als wäre es der letzte, nach diesem blöden Satz, den einem manche Ärzte sagen. Essen war für mich früher ein Fest, jetzt habe ich keinen Appetit mehr. Nicht mal auf Rotwein habe ich Lust. Nur die Kornschnäpse, die ich kürzlich in der Kantine des Maxim Gorki Theaters mit dem Intendanten Armin Petras getrunken habe, haben mir geschmeckt.
SPIEGEL: Ist es ein Trost für Sie, dass Sie nach 25 Jahren des heftigen Streits in diesem Jahr plötzlich von Publikum und Kritik gefeiert werden wie nie zuvor?
Schlingensief: Man sieht vieles wie hinter einer Panzerglasscheibe und wundert sich. Das Tolle an der „Kirche der Angst“ war, dass ich ohne Zweifel auf meine Arbeit gucken konnte. Diese Arbeit war ganz pur, traurig, aber auch absurd und lustig. Vor einem Jahr, kurz bevor mein Krebs entdeckt wurde, fuhren wir nach Nepal. Wir haben dort einen Film gedreht und ein Kinderkrankenhaus besucht, und ich schrieb ins Gästebuch: „Auf dass die kreisenden Gedanken endlich einen Grund finden.“ Dieser Satz ist mir drei Tage später beim Betrachten des ersten Röntgenbilds in die Knochen gefahren, und tatsächlich habe ich das Gefühl: In der „Kirche der Angst“ haben die Gedanken einen Grund gefunden, den jeder begreift: sterben müssen, aber leben wollen, das ist das Thema.
SPIEGEL: Ist es wirklich so, dass Sie gequält wurden von Zweifeln an Ihrer Kunst?
Schlingensief: Gehört das nicht dazu? Viele entdecken vielleicht erst jetzt, dass meine Arbeiten immer auch melancholisch oder nachdenklich waren. Ich bin aber kein Leidensbeauftragter, wie viele eingebildete Kranke am Theater. Trotzdem habe ich mit Problemen gekämpft, die mir jetzt bescheuert vorkommen. Es hat mich aufgerieben, wenn etwas nicht ankam, dieser Kampf um die Kritik, dieses Lebenmüssen mit den Verrissen. Bei jeder negativen Kritik gingen sofort die Abwehrkräfte hoch, im billigsten Fall wurde der Kritiker auf die Bühne gezerrt.
SPIEGEL: Es sah meistens wie Spaß aus.
Schlingensief: Klar war das befreiend. Es gibt nichts Schöneres, als ein gebanntes, lachendes Publikum mit großen Themen auf die Jagd zu schicken. Das hat mir auch bei Beuys immer gefallen, dass der seine Thesen nie verbissen präsentierte. Bei meinen Filmen war ich immer erstaunt, warum die Leute nicht mehr lachten. In „Tunguska“ habe ich zum Beispiel ein paar Avantgardefilmer auf dem Weg zum Nordpol gezeigt, die dort die Eskimos mit ihren Werken foltern wollten, das war meine Abrechnung mit meinem Lehrer Werner Nekes und dem deutschen Avantgardefilm. Und gleichzeitig eine Liebeserklärung.
SPIEGEL: Was würden Sie im Rückblick anders machen?
Schlingensief: Vielleicht waren meine Arbeiten zu verschlüsselt oder zu feige. Mein Dramaturg Carl Hegemann warf mir nach meiner ersten Theaterarbeit an der Volksbühne, „100 Jahre CDU“, mal vor, ich hätte nicht richtig gebeichtet. Da habe ich verstanden, dass es am Theater auch um Haftung gehen muss, dass ich die so oft vermisse. Erst kürzlich war ich in der Wohnung meiner Eltern in Oberhausen und merkte, dass es dort ganz dunkel ist, die Wände gelblich, der Boden abgewetzt. Das hatte ich vorher nie wahrgenommen. Ich habe dort immer den weißen Riesen gespielt, um die Wohnung hell zu kriegen. Ich bin rumgeturnt, habe erzählt, dass ich in Wien oder in Bayreuth war oder ein Angebot aus Manaus habe: Stellt euch vor, da fahre ich hin. Damit habe ich Leben in die Bude gebracht, habe meinen Vater, der zehn Jahre lang allmählich erblindete und damit nicht fertig wurde, ein bisschen aus seiner Depression geholt und bei meiner Mutter gute Stimmung gemacht. Dazu habe ich jetzt keine Lust mehr, wenn ich meine Mutter besuche; mein Vater ist inzwischen gestorben. Was ich da abgekapselt habe, war ein Defizit an Selbstliebe. Ich hab in vielen Punkten mich selber nicht gemocht.
SPIEGEL: Und das galt auch für Ihre Arbeit?
Schlingensief: Man tut nur so, als ob einen Ablehnung motiviert, nach dem Motto: Jetzt erst recht, jawoll, Widerstand! Mit 16 bekam ich von einem WDR-Redakteur, dem ich einen Film zeigte, einen bösen Schlag mit. Der sagte: „Du wirst niemals einen Menschen lieben können, das sieht man dem Film genau an, du interessierst dich nicht für die Figuren, das sind nur Pappkameraden für dich.“ Da saß ich mitten in der Vollpubertät und habe geheult. Natürlich habe ich mich immer schwergetan mit Beziehungen. Später drehte ich mit Tilda Swinton, mit der ich damals zusammen
war, „Egomania – Insel ohne Hoffnung“, und als ich ihr stolz den Film zeigte, war sie entsetzt, so schlimm unverständlich und voller Hass fand sie den. Sie hat nur noch geheult.
SPIEGEL: Und dass es in Ihrer Laufbahn stets auch begeisterte Zustimmung für Ihre Arbeiten gab, richtete Ihr Selbstbewusstsein nicht gleich wieder auf?
Schlingensief: Das funktionierte nicht, obwohl es immer fünfzig zu fünfzig war bei mir. Ich habe extremst darunter gelitten, zu Hause bei den Eltern nicht vermitteln zu können, dass es gut ist, was ich tue. Dort kam nur an, dass Nachbarn und Verwandte das nicht sinnvoll fanden und Sippenhaft
fürchteten. Mein Vater hat bei der Berlinale geweint, als er „Menu total“ sah. Da half es nichts, dass seine Schwester sagte, sie fände den Film, wie sie es ausdrückte, imposant. Mein Vater hat es so weit getrieben, dass er meiner Mutter aus „Egomania“ nur die Landschaftsaufnahmen gezeigt hat. Er hatte sich auf einen Zettel notiert, bis wohin er die Videokassette spulen muss, und ließ meine Mutter glauben, dass ich Dokumentarfilme
über deutsche Landschaften drehe.
SPIEGEL: Sie haben neulich darauf hingewiesen, dass der Krebs in Ihrer Lunge vermutlich zu wachsen begann, als Sie in Bayreuth den „Parsifal“ inszenierten. Glauben Sie ganz im Ernst, da gibt es Zusammenhänge?
Schlingensief: Jeder Krebskranke fragt sich so was. Der eine grübelt, ob er zu viele Zigaretten geraucht oder zu viel Rotwein getrunken hat, ich frage mich zum Beispiel, ob ich mich in der Kunst zu sehr dem Tod verbunden gefühlt habe. Die Ergriffenheit, mit der ich 2004 den „Parsifal“, dieses
Wagner-Abschiedswerk, inszeniert habe, und dass ich meine damalige Freundin aufgab und ein paar meiner dunklen Seiten auslebte, das hat einem Lebenswillen widersprochen und einen Ekel erzeugt, der nicht zum Aushalten war. Ich glaube, dass jeder Mensch von Geburt an eine Stabilität besitzt, die man durch solche Akte des Selbsthasses ins Wanken bringt.
SPIEGEL: Gelingt es Ihnen denn jetzt, sich mehr zu mögen?
Schlingensief: Nicht nur mich, auch die anderen, ich habe mir zum Beispiel vorgenommen: mehr loben! Ich freue mich über die Wärme, die ich von so vielen Freunden, aber auch von Künstlern zu spüren bekomme, von Margit Carstensen oder René Pollesch, von Matthias Lilienthal oder Peter Zadek, der mir ein riesiges lustiges Buch mit Pornozeichnungen ins Krankenhaus geschickt hat. Aber es ist Quatsch zu sagen, dass man als Krebskranker die Welt ganz anders sieht. Man bildet sich das ein, man ist schwach, und die Umgebung reagiert anders auf einen. Trotzdem bin ich jetzt so weit zu sagen: Das Normalste ist das Schönste. Ich freue mich darüber, mit meiner Freundin einfach dazuliegen und meinetwegen auf eine graue Hochhauswand zu blicken, ohne dunkle Wolke, ohne die Frage: Wie lange liegen wir überhaupt noch hier? Ich habe eine Lunge weg, ich kann nicht mehr rennen, ich bin außer Atem, meine Füße sind wie aus Eisen, aber mir geht’s echt gut, ich werde besser versorgt als jedes Kind in Nepal, das in meiner Lage keine Chance hätte, ich habe echt wunderschöne Momente und ganz viel Freude.
SPIEGEL: Jetzt machen Sie wieder gute Stimmung.
Schlingensief: Sagen wir so, ich versuche es. Tief drin heule ich wahrscheinlich. Grundsätzlich gilt: Jeder Krebskranke darf für sich einen Weg finden. Wenn einer immer die gleiche Schallplatte spielen will bis zum Schluss, ist es okay. Wenn er Qigong oder Yoga machen will, auch. Schlimm ist nur, dass man bei all diesen Therapien und Ratschlägen nicht durchblickt. Dauernd denkt man, hättest du doch bloß dieses oder jenes auch noch gemacht. Wichtig wäre, dass man den Krebskranken rausholt aus seiner Verzweiflung, aus dieser Vertrauenskrise. Die Krankenhäuser sollten einem Helfer vermitteln, die mit einem die Angst besprechen und dir die Mechanismen der Angstbekämpfung erklären. Stattdessen liest man sich fest in diesen Foren im Internet, von denen man sofort noch schlimmer krank wird. Zum Glück habe ich einen Arzt, der mich als Menschen sieht, der spricht offen und zart mit mir und nicht so amerikanisch nach dem Motto: „Ich kläre Sie jetzt mal beinhart auf. Sie sind am Ende!“
SPIEGEL: Waren Sie zuvor je schwer krank?
Schlingensief: Ja, einmal, mit 18, im Abiturjahr. Ich hatte auf der Kirmes Fischbrötchen gegessen und lag zu Hause mit Bauchschmerzen im Bett. Man behandelte mich auf Fischvergiftung, aber in Wahrheit war mein Blinddarm durchgebrochen. Als ich nach zwei Tagen endlich ins Krankenhaus
eingeliefert wurde, war ich bewusstlos. Die haben sieben Stunden nur Eiter weggemacht aus meinem Bauch. Nach der Operation lag ich sechs Wochen erst auf der Intensiv-, dann auf der Wachstation, mit Darmverschluss. Da hörte ich Leute aus dem OP rollen und schreien und sah einige auch sterben, das war sehr hart.
SPIEGEL: Rührt Ihre künstlerische Obsession mit Krankheit und Tod aus dieser Zeit?
Schlingensief: Das kann ich nicht so genau sagen. Mein Vater war Apotheker, ich habe kranken Menschen noch und nöcher zugehört. Ich habe nie so an das total Gesunde geglaubt.
SPIEGEL: Haben Sie das Gefühl, dass Sie jetzt erst recht arbeiten müssen?
Schlingensief: Ich mache mir nicht vor, dass die Arbeit mich am Leben hält. Es ist gut zu denken, dass man gebraucht wird, aber viel wichtiger ist, dass ich in Aino eine Freundin gefunden habe, die für mich kämpft und mich aus dem Bett holt, wenn ich nur noch schluchze. Aino ist so ein Glück, dass ich durchheulen könnte bei dem Gedanken, das je zu verlieren. Ich habe keinen Bock auf Himmel, ich habe keinen Bock auf Harfe spielen und Singen und musizieren und irgendwo auf einer Wolke herumgammeln!
SPIEGEL: Wie wird Ihr Krebs behandelt? Schlingensief: Vorerst kriege ich Tabletten. Man weiß halt noch nicht, ob die Wirkstoffe in die Lunge reingehen und die Metastasen aufhalten oder kleiner machen. Ich hatte anfangs die Idee, mich umzubringen. Ich wollte nicht gelb und grün und blau nach der fünften und sechsten Chemotherapie sterben. Aber ich hab mich entschieden: Umbringen kommt nicht in Frage. Ich werde
auf alle Fälle Christ bleiben – auch wenn ich die katholische Kirche, die eine aberwitzige Höllenmaschine auf Erden anwirft, in dieser Form ablehne. Nur Schmerzen will ich keine erleben. Da habe ich aber ganz gute Leute, die mir da helfen würden, damit ich gedämpft bin. Jesus hat man auch in die Seite gestoßen, um sein Leiden zu verkürzen, dadurch hat er Blut und Wasser verloren. Das war Sterbehilfe! Aber sag das mal einem in der katholischen Kirche!
SPIEGEL: Ist das auch Thema Ihres neuen Theaterprojekts in Wien?
Schlingensief: Ja, da geht es natürlich um Krankheit, um das kreisende Universum, in dem man doch drinbleibt, auch wenn man weg ist. Und es geht um Afrika und die Eröffnung eines Festspielhauses, das ich dort errichten möchte, damit Künstler aus Europa dort auf Zeit leben und die Afrikaner ganz offiziell beklauen können und nicht wie bisher heimlich. Das sind die Versatzstücke. Den Text hat mir Elfriede Jelinek geschenkt, ein Komponist macht gerade die Partitur für die Sänger. Am 20. März ist Premiere am Burgtheater. Ich kann nicht singen, ich kann nicht komponieren,
also muss ich mich auf andere Leute verlassen, das habe ich gelernt in der letzten Zeit. Diese Fernregie, das ist ein alter Wunsch von mir: Du baust einen Zug, auf dem du eines Tages nicht mehr mitfahren kannst, dann fahren andere den Zug weiter und erkunden unbekannte Länder.
SPIEGEL: Sie haben angekündigt, dass Sie, wenn es so weit ist, zum Sterben nach Afrika gehen wollen. Warum dorthin?
Schlingensief: Nicht, weil ich mich dort besonders verankert fühle oder so etwas. Nur habe ich, seit ich vor fast 30 Jahren zum ersten Mal dorthin kam, das Gefühl, dass ich dort zur Ruhe komme. Das ist etwas Spirituelles. Aber so schnell sterben kann ich ohnehin nicht. Ich habe noch lange
nicht abgeschlossen. Ich bin noch nicht mit mir im Reinen. Ich lass mich jetzt noch nicht fallen. Ich habe noch Kämpfe!
SPIEGEL: Herr Schlingensief, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Das Gespräch führten die Redakteure Anke Dürr und Wolfgang Höbel.
Der SPIEGEL vom 15.12.2008, Seite 156