„DIESEN KREBS SEHE ICH ALS ARSCHLOCH AN“ (ORF)

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Christoph Schlingensief im Gespräch über die Angst, das Leben und die Kirche

Krankheit, insbesondere eine Krebserkrankung, die im Bewusstsein der meisten Menschheit noch immer als Todesurteil betrachtet wird, stellt aufgrund der begleitenden Therapien und Operationen eine Extremform des Souveränitätsverlustes dar.

Christoph Schlingensief, der Künstler, Film-, Theater- und Wagner-Opernregisseur, wurde im Jänner 2008 schlagartig mit der Diagnose Lungenkrebs in eine solche Souveränitätskrise gestoßen. Wer – fragt der bis dahin Souveräne – hat Schuld? Und wie wird dieses Weiterleben aussehen, wenn man von einem Moment auf den anderen aus der Lebensbahn geworfen wird, wenn der Tod plötzlich nahe rückt?

Schlingensief ORF Juli 2009

„Ich hatte auch schüchterne Momente“, sagt Schlingensief, „ich war beleidigt von dem Ding. Ich habe gesagt, wie kann so eine Scheiße in mir auftreten? Ich habe so viel Spaß am Leben. Ich habe so viele Freunde, ich mache so viele lebensbejahende Dinge. Wie kann so ein Mist passieren?“

Ein Buch gegen die Angst

Fragen stellen sich, brechen aus Schlingensief heraus, der sich kurz davor noch in der Mitte des Lebensalters wähnte. Wenige Tage nach der Diagnose beginnt Christoph Schlingensief zu sprechen, mit sich selbst, mit Freunden, mit seinem toten Vater, mit Gott – fast immer eingeschaltet: ein Diktiergerät, das diese Gespräche aufzeichnet.

„Gerade war ich noch in der Luft und ich war auf große Sprünge aus und plötzlich soll alles anders sein?“

In einem Tagebuch beginnt Christoph Schlingensief seine Stunden, Tage und Wochen seit der Diagnose der Krebserkrankung festzuhalten. Er entschließt sich, dieses Tagebuch in Buchform zu veröffentlichen und damit die Öffentlichkeit teilhaben zu lassen an seiner eindringlichen Suche nach sich selbst, nach Gott und nach der Liebe zum Leben. Ein Lungenflügel muss entfernt werden, Chemotherapie und Bestrahlungen folgen, die Prognose ist ungewiss – für Schlingensief ein Alptraum der Freiheitsberaubung.

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„Das Buch ist nicht geschrieben worden, im Sinne von ‚ich berichte jetzt über meine Krankheit‘, sondern in den einsamen Stunden im Krankenhaus“, sagt Schlingensief. Das Buch „So schön kann es im Himmel gar nicht sein“ habe keinerlei literarischen Anspruch, es sei für ihn vielmehr eine Art Selbsttherapie während der langen Zeit im Krankenhaus gewesen: „Es ist für mich entstanden, denn es hat mir die Angst genommen“.

Hinschauen, wenn das Leid kommt

Der Tod ist unbequem und Menschen, die den Tod thematisieren machen sich unbequem, weil sie die Lebenden an ihre Sterblichkeit erinnern. Für Todkranke oder deren Angehörige kann es aber eine Erleichterung darstellen, sich auszutauschen, sagt der Künstler: „Ich habe seitdem so viele Briefe bekommen, von Leuten, die Krebs haben und auch von Verwandten. Denn gerade die haben Fragen. Was ist dieses Leid, das der Betroffene da hat? Denn darüber wurde in den Familien nicht gesprochen. Viele Kranke ziehen sich zurück und gehen immer weg, wenn das Leid kommt.“

„Ich hab mich ja selbst nie gemocht“

Einige Freunde hat er in der Phase der Krankheit verloren. Floskeln, wie „Ich drücke dir die Daumen“ oder „Das schaffst du schon“, sind ihm ein Gräuel. Um seine Angst zu bekämpfen, hat er ein Internetforum ins Leben gerufen, wo sich Krebspatienten und -patientinnen austauschen können: „Geschockte Patienten“ ist der Titel.

„Diesen Krebs sehe ich als absolutes Arschloch an. Der hat nichts in mir verloren. Der wird sich noch wundern, wen er ausgesucht hat, hab ich mir immer gedacht.“

Halt findet er aber auch durch autogenes Training und in seiner Beziehung: „Man versucht, sich die Momente zu schildern, wo es doch wieder toll war, zu leben. Es geht nicht darum, zu überleben, um irgend etwas zu beweisen. Es waren so Momente, als ich kapiert habe: meine Freundin liebt mich wirklich. Ich habe selber nie gedacht, dass mich jemand so lieben könnte. Ich habe mich ja selbst nicht gemocht – auch wenn ich immer als selbstverliebter Egomane aufgetreten bin.“

Ein Opernaus für Burkina Faso?

Die Angst vor dem Tod habe zu einer neuen Einstellung zum Leben geführt, sagt Schlingensief: „Ich habe eine riesen Todesangst, das kann ich nicht abstreiten. Ich kann mich nicht damit anfreunden. Aber ich habe auch das Gefühl, ich habe noch das eine oder das andere zu tun, das ich immer machen wollte und nicht gemacht habe. Das ist nicht die Weltreise, auch nicht der Porsche.“

Christoph Schlingensief möchte in Afrika ein Festspielhaus errichten. Wahrscheinlichster Standort: Burkina Faso. Mehrere Reisen haben den Künstler bereits dorthin geführt: „Ich bin nicht kolonial unterwegs“, betont er, „ich sehe, dass ich viel von denen lernen kann. Und habe mich in Afrika irgendwie zuhause gefühlt.“

„Ich sehe jetzt die Welt liebenswürdiger, als ich es früher getan habe.“

Warum ein Festspielhaus? Weil die Kunst, das sei, wo der Mensch anfange, sich in seiner eigenen Existenz wieder zu spüren, meint der Künstler: „Das ist auch die Suche des Betrachters an der Kunst. Das Museum ist fast ein religiöser Ersatz, ich kann ja Gott auch nicht sehen. Ich kann in der Kunst anfangen, in der Meditation und merken, dass ich hier auf der Spur bin, nicht belehrt zu werden. Ich kann etwas ertasten und selber den eigenen Standpunkt finden.“

Im Gespräch, Donnerstag, 9. Juli 2009, 21:01 Uhr, ORF