Theater Zürich richtet derzeit ein Gipfeltreffen der Avantgarde aus: René Pollesch inszeniert im Schauspielhaus, Christoph Schlingensief im Theater am Neumarkt. Und sie packen die Gelegenheit beim Schopf und spielen auch zusammen.
Wenn der Zufall regiert, entstehen die aufregendsten Konstellationen: In Zürich haben jetzt zeitgleich an einem Abend die zwei wichtigsten Vertreter des „postdramatischen Theaters“ ihre neuesten Arbeiten vorgestellt. Auf lineare Handlungen und feste Rollenbilder verzichten sie beide: Christoph Schlingensief, Jahrgang 1960, und René Pollesch, Jahrgang 1962. Von Schlingensiefs „Unsterblichkeit kann töten“ berichtet Christian Gampert, von Polleschs „Calvinismus Klein“ Roland Müller.
Christoph Schlingensief ist krank. Er hat Lungenkrebs – und natürlich muss man diesen Dämon bei „Unsterblichkeit kann töten“ immer mitdenken: Es tickt die Uhr. Dass der Allroundkünstler im Theater am Neumarkt (laut Untertitel) „Sterben lernen“ will in „60 Minuten“, im Sinne einer Gebrauchsanweisung, ist aber bereits eine seiner typisch ambivalenten Parolen. Einerseits will er sich ernsthaft mit Sterbetheorien auseinandersetzen, andererseits bildet der aus diesen Theorien genähte Textteppich (mit Gedanken von Meister Eckhart, Hugo Ball, Nikolaus von Kues und anderen) nur den Vorwand für ein schräges Happening, das dramaturgisch eben mit der Vorstellung arbeitet, die Zeit eines Menschen sei jetzt unwiderruflich abgelaufen.
Das Sterben aber verliert einen Teil seines Schreckens, wenn es kollektiv zu Kunst verarbeitet wird. Zu Kunst wird es, wenn der Sterbende, der nicht von Schlingensief gespielt wird, mit französischem Akzent herumnäselt und als skurrile Jesusfigur sein Balkenkreuz die Treppe heruntertragen muss, wenn erlösungssüchtige Musik von Richard Wagner ertönt und die schrille Performancefigur „Beuys von Hagen“ auftaucht, also jener stets einen Beuys-Hut tragende Leichen-Plastinator, der den Körper haltbar macht, aber die Seele nicht findet. Das ist durchaus Schlingensiefs Anliegen: Er sucht die Seele und die Unsterblichkeit und den „Hypergott“, der für ihn eine „alles umfassende Energiewolke“ ist. Andererseits aber sucht er auch die Nähe und die Interaktion, die Hitze des „interaktiven Theaters“ – im Gegensatz zum kühlen Warenanalytiker René Pollesch, der sich zeitgleich im Schauspielhaus über das „interpassvie Theater“ verbreitet.
Interpassives Theater? Tja, da staunt (nur fünfhundert Meter vom Neumarkt entfernt) die Schauspielerin Carolin Conrad nicht schlecht, als der Schauspieler Martin Wuttke von dieser neuen Theaterform spricht – neu und notwendig, denn das alte „interaktive Theater“, so bricht es in Überschallgeschwindigkeit aus Wuttke heraus, sei ein „jahrzehntelanger Terror“ gewesen, eine „widerliche Kunstform der Geselligkeit“. Deshalb müsse das interaktive vom „interpassiven Theater“ ersetzt werden, bei dem der Zuschauer sein Leben an den Schauspieler abtreten könne: „Der Schauspieler geht am Ende der Vorstellung mit deiner Begleitung nach Hause“, sagt Wuttke zu Conrad, „dann musst du das nicht tun.“ Und überhaupt: „Unsere intimsten Regungen können wir an andere delegieren. Das genau ist unsere Seele: Die Außenbeziehung des Körpers mit sich selbst.“
Mit Schlingensiefs „umfassender Energiewolke“ hat Pollesch im Schauspielhaus nichts am Hut. Im Gegenteil: konsequent unterläuft er jede Metaphysik, indem er auf die Physik der anwesenden Körper von Conrad & Wuttke pocht. Ein greller Materialismus, der bei diesem Turbodramatiker keineswegs neu ist, so wenig wie die glitzernde Las-Vegas-Bühne, auf der das Spielerpaar – er tuntig, sie resolut – immer wieder die Orientierung verliert, räumlich und gedanklich. Gott sei Dank schaltet sich nach einer halben Stunde Schlingensief ein: Live vom Neumarkt eingespielt, erkundigt er sich auf einer Videowand nach dem Stand der Dinge: „Habt ihr schon über das interpassive Theater geredet?“
Haben wir schon, sagt Wuttke – und er sagt es auch mitten rein in Schlingensiefs Totenmesse, die ebenfalls per Video mit Polleschs Performance verbunden ist. Schlingensief zündet jetzt im Neumarkt-Theater eine weitere Stufe seines interaktiven Theaters: Lasst uns Pollesch besuchen! Gesagt, getan: Wie ein dadaistischer Passionszug zieht Schlingensiefs Familie jetzt durch die nächtliche Züricher Altstadt, begleitet von Messdienern und Chorsängern, die süßlich „Es ist so weit, nun musst du Abschied nehmen“ in den Sternenhimmel schicken. Und das sind die schönsten Momente des Happenings: eine verschleierte, aus dem Mittelalter gefallene Madonnenfigur tänzelt über den Zebrastreifen, gefolgt von einer Mutter mit einem altmodischen Kinderwagen und einem Jesus, der mit nacktem Oberkörper dampfend sein Kreuz trägt. Die Autos halten an, die Stadt steht still. Es ist ein groteskes, subversives Fellini-Theater, das da über die Schweizer kommt, der Einbruch des Sakralen in die profane Kommerzwelt der Finanzmetropole Zürich.
Schlingensief selber spielt als „Papst Mabuse“ mit, ein Hybrid aus Sonnenkönig, Kardinal und Zauberer, eine Gestalt mit Papstrobe, Hermelinüberwurf und zerzaustem Grauhaar. „Habemus Papam“ ruft die Menge durch die Gassen. Schlingensief, der Kirchenfürst, lässt sich in einer Sänfte zum Schauspielhaus tragen und verkündet seinem Volk: „Die Heilung hat eingesetzt.“ Das Verblüffende: es scheint ihm gesundheitlich tatsächlich etwas besser zu gehen.
Dass Jesus mit dem Kreuz auf den Asphalt stürzt, sieht man auch im Schauspielhaus: Die Liveübertragung der Prozession läuft – bis zu dem Augenblick, da Schlingensief in Apo-Manier die Pollesch-Show sprengt. Die Leute vom Neumarkt strömen auf die Schauspielhausbühne, die Kirchenmesse bricht surreal in den Theorieboulevard ein und würgt das Spiel ab. Conrad & Wuttke, die noch einige Textbrocken hätten ausspucken müssen, nutzen das Chaos, um von der Spielfläche zu verschwinden und die Inszenierung vorzeitig zu beenden.
Das ist nicht weiter schlimm. Polleschs sonst so reich möblierte Gedankenwelt scheint dieses Mal bereits nach sechzig Minuten leergeräumt zu sein. Immer wieder jagt er das „interpassive Theater“ mitsamt „Seele“ in seine diskursive Endlosschleife, ohne dass die Gedankenhetzjagd noch Mehrwert abwerfen würde. Höchstens eines kommt noch dabei raus: eine Ahnung, weshalb die Inszenierung „Calvinismus Klein“ heißt. Würde man mit Hilfe des interpassiven Theaters seine intimen Regungen an Schauspieler delegieren, so Pollesch, dann führte das auch zu einer Entlastung der vom calvinistischen Leistungsethos heillos überforderten Seelen. Was er von dieser Methode der Entlastung hält, ob er sie begrüßen oder verdammen würde, das hält der Schnelldenker freilich offen, gerade so, als wäre er eine Theatersphinx.
Schlingensief pilgert derweil zurück ins Neumarkt-Theater. Dort sucht er (mit Parsifal) das Heil und verteilt die Kommunion: Der skurrile, freakige und mystische Katholizismus, den dieser reine Tor jenseits aller offiziösen Kirchlichkeit zelebriert, hangelt genau auf der Grenze zwischen Ernst und Parodie, zwischen Sinnsuche und Showgetue. Ihren tragischen Kern freilich verleugnet diese Erlösungsrevue nie. Unberührt kommt hier, anders als bei Pollesch, niemand davon. Punktsieg für Schlingensief!
Von Christian Gampert und Roland Müller (STUTTGARTER ZEITUNG vom 08.12.2009)
Foto: Adrian Ehrat