Der Künstler Christoph Schlingensief war als begnadeter Alleinunterhalter und Super-Responder zu Gast im Akademietheater.
Drei Stunden hat er geredet, ohne Punkt und ohne Beistrich, und doch keinen einzigen Satz aus seinem Buch (siehe unten) gelesen. Denn, „das lohnt sich nicht“.
Christoph Schlingensief machte auf seiner „Lese-Reise“ am Freitag Halt im Akademietheater Wien. Und er erzählte lieber aus seinem bewegten Leben als Bericht zu erstatten über den Verlauf seiner Lungenkrebs-Erkrankung. Nur soviel dazu: Dank des Medikaments Tarceba schmücke er sich nun mit dem neuen Beinamen „Super-Responder“ (jemand, der auf ein Mittel sehr gut anspricht, Anm.) .
Seine aktuelle Selbstdefinition: „Ich bin ein wertekonservativer Mensch, aber im Kern doch ein Punk, mit der FDP hab‘ ich aber gar nichts zu tun – das wäre wie Teufel und Weihwasser.“
Und, etwas Neues sei im Gange: „Die Haare wachsen wieder, zu Afrolocken, und die Hände werden dunkler …“ Schon ist er angekommen beim wahren Thema des Abends: Seinem Festspielhaus-Projekt in Afrika, für das er unermüdlich Geld sammelt. Am 5. Februar soll die Grundsteinlegung in Burkina Faso erfolgen, für einen von Francis Kéré entworfenen Komplex, der auch eine Musik- und Filmschule, eine Krankenstation und ein Hotel für spendenfreudige Besucher beherbergen soll.
An Überzeugungskraft hat der Allroundkünstler nichts verloren, vielleicht ist er durch die Krankheit noch authentischer geworden.
Der Schelm als rohes Ei
Selbst der Behauptung, seine vielschichtige Persönlichkeit bei gleichzeitigem Drang zur Ganzheitlichkeit sei darauf zurückzuführen, dass er Einzelkind geblieben ist, obwohl seine Eltern sechs Kinder haben wollten, kann man etwas abgewinnen.
Schelmisch spielt er mit der Tatsache, dass viele Menschen einem Krebskranken begegnen, als wäre er ein rohes Ei …
Um die Besucher, die nur sein Buch kennen, dahin zu führen, wo er jetzt steht, holt er weit aus. Lässt ein Tagebuch in Wort und Bild – via Laptop spielt er auch Filme ein – abschnurren, das vor Querverweisen und zeitlichen Sprüngen nur so strotzt und dennoch ein stimmiges Gesamtbild ergibt.
Zum Tränen lachen: Seine Probenberichte aus Bayreuth, mit einem eitrigen Zahn von Gudrun Wagner und der Bereitschaft von Tochter Katharina, alles zu geben, in tragenden Rollen.
Immer noch nachdenklich machend: Seine „Ausländer raus“-Aktion vor der Staatsoper. Immer noch lustig: Seine ersten Film-Versuche und die Geschichte der „Chance 2000“-Partei, die darin gipfelte, dass Arbeitslose in den Wolfgangsee sprangen, um Helmut Kohls Badehütte zu fluten.
Tagebuch: Worte finden, wo die Worte oft fehlen
Allein der Titel: „So schön kanns im Himmel gar nicht sein!“ Und der Nachsatz: „Ich schaue aus dem Fenster und staune, als hätte ich noch nie Sonne und Wolken gesehen“.
Christoph Schlingensief ist der lebendigste und öffentlichste Beweis dafür, dass Ironie und Überheblichkeit aus dem Leben weichen, wenn dieses droht, zu entweichen.
Der Künstler, der stets Grenzen gesucht, Gegnern gern Ecken und Kanten geboten hat, stand 2008 vor der Diagnose Lungenkrebs. Das Unfassbare und doch plötzlich so real Existierende hat er in ein Diktiergerät gesprochen: rasende Gedanken, neue Emotionen, Flüche, Ängste, Zweifel und Qualen; Zwiegespräche mit Gott, mit seinem verstorbenen Vater, mit sich selbst. Ein bewegendes Buch, das Mut dazu machen will, über das Unsagbare zu sprechen.
Von Caro Wiesauer (Kurier vom 20.12.2009)