PROZESSION, MULTIMEDIAL (OPERNWELT)

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Jörg Königsdorf über die szenische Uraufführung der «Heiligen Johanna» von Walter Braunfels in Berlin

Am Ende stehen drei Kreuze: In lichtem Lohengrin’schen A-Dur, der in ihrem doppelten Symbolgehalt – sie steht zugleich für Golgatha und die heilige Trinität – wohl christlichsten aller Tonarten, verkündet der Chor am Ende von Walter Braunfels’ Jeanne d’Arc-Oper den Sieg des Glaubens. Die Befreierin Frankreichs ist zwar auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden, doch ihr Herz blieb unversehrt – und am Ende triumphiert nicht der Satan, sondern die Hoffnung.

Als Walter Braunfels dieses Finale seiner «Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna» schrieb, hatte er solchen Seelentrost selbst bitter nötig: Seit zehn Jahren lebte er, als Halbjude schon 1933 seines Amtes als Rektor der Kölner Musikhochschule enthoben, in seinem Haus am Bodensee in der inneren Emigration. Der einstige Erfolgskomponist, dessen Aristophanes-Oper «Die Vögel» in den zwanziger Jahren weltweit Furore gemacht hatte, war so gut wie vergessen, durch Aufführungsverbot seiner Werke aus dem öffentlichen Bewusstsein ausradiert. Es braucht das Wissen um diesen Hintergrund, wenn man die ganze Tragweite der «Heiligen Johanna» begreifen will: Denn das zwischen 1938 und 1942 entstandene Stück ist nicht bloß ein veropertes Passionsspiel, sondern in seiner zugleich affirmativen wie untergründig verunsicherten Spätromantik ein verzweifelter Versuch, sich selbst die ungebrochene Gültigkeit der konservativ bildungsbürgerlichen Musiktradition zu be­weisen. Und vor allem ist diese «Johanna» ein persönliches Bekenntniswerk, in dessen klarsichtig unbeirrbarer Märtyrerin sich Biografie und moralisches Wunschdenken des Komponisten spiegeln.

Verständlich ist allerdings auch, dass die Zeitgenossen nach 1945 mit dem heroisch hochgestimmten Ton Braun­fels’ wenig anzufangen wussten. Selbst nachdem in den neunziger Jahren «Die Vögel» wieder flächendeckend im Repertoire etabliert worden waren, blieb die «Johanna» in der Schublade. Lediglich konzertante Aufführungen in Stockholm und München kamen vor einigen Jahren zustande. Und hätte Kirsten Harms, die ausgrabungsfreudigste unter Deutschlands Opernintendanten, nicht schließlich zugegriffen, hätte das Stück vermutlich noch einige Jahre auf seine Uraufführung warten müssen.

Dass sich der Republik zweitgrößtes Opernhaus der «Johanna» annahm, ist ein Glücksfall. Denn musikalisch kann das in dieser Spielzeit deutlich wiedererstarkte Haus diesem ausladenden, fordernden Stück die Bedingungen bieten, die es braucht: Braunfels’ üppige Partitur mit ihren oftmals an Schreker erinnernden changierenden Klangfarbenmischungen verlangt ein großes Wagner- und Strauss-Orchester sowie große Chö­re, und die achtzehn Solistenrollen kann ohnehin nur ein derart ausgestattetes Haus befriedigend besetzen. In Berlin ist für all das gesorgt: Ulf Schirmer zeigt am Pult ein Gespür für die Haar­risse, mit denen die Schaufassade von Braunfels’ Partitur durchsetzt ist. Fast ins Expressionistisch-Groteske spitzt er die Jubelchöre des Volks zu und trifft in den intimeren Szenen genau den nachdenklich verlangsamten, aber dennoch magnetisch zielgerichteten Grundpuls der Musik. An der Spitze der durchweg stimmstarken Sängerschar steht mit der jungen Amerikanerin Mary Mills eine konditionsstarke Johanna, deren Elisabeth-Sopran mädchenhafte Zartheit mit missionarischer Leuchtkraft vereinigt – es dürfte schwer sein, für diese Rolle eine bessere Besetzung zu finden.

Dass andere Opernhäuser über Jahre vor diesem Werk zurückgeschreckt sind, dürfte ohnehin weniger an der bisweilen arg typisierten Zeichnung der Neben­figuren und den musikalischen Durststrecken liegen, die sich vor allem in den ersten beiden Akten finden, sondern eher am Stoff selbst: Wenn die Heiligen der katholischen Kirche auftreten und Johanna ihre Mission verkünden, liefe jede naturalistische Inszenierung Gefahr, in passionsspielhaften Sakrokitsch abzugleiten. Dass Kirsten Harms deshalb mit Christoph Schlingensief einen Regisseur aussuchte, dessen Herangehensweise an Oper sich um die Anforderungen und Konventionen des Betriebs wenig schert, ist deshalb durchaus einleuchtend. Tatsächlich passt das bildkräftige Chaos, das Schlingensiefs Bühnenfamilie mit ihren Zwergen und Ar­tis­ten veranstaltet, gar nicht schlecht zur apokalyptischen Szenerie des hundertjährigen Krieges. Auch die verwackelten Filmzuspielungen von nepalesischen Begräbnisritualen, mit denen Schlingensief den ersten Teil des Stücks überblendet, schaffen eine eigentümlich lugubre, zwischen feierlichem Ernst und nervöser Spannung oszillierende Grundatmo­sphäre.

Dass die Inszenierung dennoch eher wie das Zwischenstadium eines kreativen Prozesses wirkt, dürfte vor allem an ihren Entstehungsbedingungen liegen, die der Produktion im Vorfeld einen erheblichen Aufmerksamkeitsschub in den Medien verschafften. Weil Schlingensief während der Arbeit schwer erkrankte, übernahm ein dreiköpfiges Regieteam in engem Kontakt mit ihm die Ausführung: Viele allzu plakative Ideen wie die Gleichsetzung von Johannas Kerker mit dem Krankenzimmer oder das Herabsenken einer geröteten Lunge vom Schnürboden auf die grübelnde Märtyrerin wären unter anderen Umständen sicher noch modifiziert worden. Zumal im dritten Akt, dem musikalisch stärks­ten der Oper, reduziert sich die Personenführung oft auf schlichtes Posieren an der Rampe. Auf der Strecke bleibt dabei zwar nicht Johanna, aber ihr hier im Phantom-of-the-Opera-Kostüm auftretender Widerpart Gilles de Rais, dem Morten Frank Larsen mit dramatischem Bariton eine elektrisierende Unrast verleiht: Dieser Mensch, später historisches Vorbild für den berüchtigten Blaubart, ist bei Braunfels ein Suchender, dessen Beziehung zu Johanna von Bewunderung und Begehren geprägt ist und dessen Seele zum Guten ebenso wie zum Bösen kippen kann. Das zu zeigen, bleibt einer anderen Inszenierung vorbehalten. Braunfels’ Oper, das unterstreicht die Urauffüh­rung nachdrücklich, ist die Mühe jedenfalls wert.

Braunfels: Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna.
Uraufführung am 27. April 2008.
Musikalische Leitung: Ulf Schirmer, Konzeption: ­Christoph Schlingensief, Regie: Anna-Sophie Mahler, Sören Schumacher, Carl Hegemann, Bühnenbild: ­Thomas Goerge, Thekla von Mülheim, Kostüme: Aino Laberenz, Film: Katrin Krottenthaler, Chöre: William Spaulding.
Solisten: Mary Mills (Johanna), Morten Frank Larsen (Gilles de Rais), Paul McNamara (Hl. Michael), Daniel Kirch (Karl von Valois), Markus Brück (Baudricourt), ­Lenus Carlson (Tremoille) u. a.

Jörg Königsdorf / opernwelt / Seite 8 / Juni 2008