Dada: Die Wüste bebt!

Veröffentlicht am Autor admin

DER SPIEGEL 47/2005, 21.11.2005. Von Thilo Thielke

Christoph Schlingensief tut, was er am besten kann, auch in Namibia: Er inszeniert den deutschen Wahnsinn. Ein Film über die letzten Tage Schröders, „Wini“ Wagner und das Elend der Baracken in der Wüste.

Der Gouverneur von Lüderitz fuchtelt auf seiner Plattform. Dieser verdammte Hubschrauber möge endlich landen, brüllt er, und der Wind zerrt an seinem Cowboyhut mit der Marlboro-Reklame: „Herr Bundeskanzler, setzen Sie endlich Ihre verdammten Kufen auf diesen Wüstensand, landen Sie, Sie Feigling!“

Oben sieht der Haudegen einen Helikopter, unten sieht er 30 „Hottentotten“, die bedrohlich am schwankenden Gerüst rütteln und skandieren: „Götterdämmerung! Götterdämmerung!“

Schon langt einer nach dem Hut des Gouverneurs, es droht Tumult, Fäuste recken sich in den blauen Himmel empor, dem Hubschrauber entgegen, der nun aufreizend über diesem verfluchten Flecken Erde steht und lärmt und Sand aufwirbelt.

0 1020 544706 00

„Frau Wieczorek-Zeul“, ruft der Gouverneur nun schon heiser und mit letzter Kraft, „kommen Sie endlich her!“ Sein hysterisches Geschrei geht im allgemeinen Krawall unter.

Die Leute sind undankbar. Gerade noch hatte der Gouverneur diesen Slum hier am Rande des Sperrgebiets feierlich eröffnet, eine Spende übrigens der Familie Wagner aus Bayreuth, die später auch noch zu sehen sein wird. Und nun drohen sie ihn zu lynchen, während sich oben feige der Kanzler aus dem Staub macht, gemeinsam mit seiner Entwicklungshilfeministerin.

Ein historischer Film, ganz offensichtlich. Aktionskünstler Christoph Schlingensief, 45, inszeniert deutsche Geschichte, deutschen Wahnsinn. Und der reicht in diesen Tagen vom Ring des Nibelungen bis zum Koalitionsvertrag, und er führt über Deutsch-Südwest. So hieß diese Gegend früher. Die Wüste bebt.

Gedankenverloren schleicht die Psycho-Rockerin Patti Smith, in einen zerschlissenen schwarzen Mantel gehüllt, um die Szenerie herum: eine hagere Schamanin, die hier einen Stein aufsammelt und da ein schwarzweißes Polaroid macht mit ihrer Uraltkamera. Und neben ihr singt der Künstler und Autorenfilmer Klaus Beyer, zottelig wie ein Yeti unter seiner schwarzen Perücke, ziemlich schief „Revolution“ von den Beatles: „We all want to change the world“.

0 1020 544702 00

Schüchtern nähern sich ein paar Namibier dem Treiben und verlassen dafür zögerlich ihre Kulisse, eine „Area 7“ genannte Wellblechsiedlung, die nicht viel vom chaotischen Gewusel anderer afrikanischer Shantytowns hat. „Area 7“ klingt nicht nur wie weiland Hellersdorf oder Leipzig-Grünau, es ist auch so: ein scheußlich glänzendes Barackendorf – verkantet, verquadert und vermessen, als hätte sich das Deutsche Institut für Normung in der namibischen Wüste alle seine Träume auf einmal erfüllt.

„Das sieht ja hier aus wie das Holocaust-Mahnmal in Berlin“, freute sich Schlingensief, als er den Ort vor kurzem entdeckte. Und dann zog ihn das realsozialistische Elend in der Lüderitzer Einöde, durch die einst deutsche Schutztruppler mit Südwester auf dem Kopf ritten, so magisch an, dass er hier seine Bayreuther Drehbühne aufbaute: „den Animatografen, eine aktionistische Fotoplatte, auf der jeder seine Spuren hinterlassen darf“. Eigentlich ist das Ding nur eine simple Drehbühne, ein Kirmes-Requisit.

Nun aber ist Schlingensief, nachdem er zuvor schon Simbabwes kommunistische Rassisten schockiert („United Trash“, 1995) und den namibischen Fishriver-Canyon mit Wagner beschallt hatte (2000), wieder einmal in Afrika. Und zum ersten Mal nach neun Jahren dreht er wieder einen Film. „African Twin Towers“ heißt das Projekt, und es geht diesmal um Richard Wagner, natürlich, den Anschlag vom 11. September, Hagen von Tronje, Odin und Edda, tote Hereros und lebende, Geister der Gegenwart und Geister der Vergangenheit. Das Ganze unter der permanenten Beobachtung diverser Kameras und jeder Menge irritierter Zuschauer. Schlingensief ist alles: Regisseur, Schauspieler und Kameramann.

Ratlos verfolgen Slumbewohner den Aufruhr. Hoffentlich kommt das so nicht im deutschen Fernsehen, sagen sie und schütteln betrübt den Kopf. Sie würden ja als Wilde dargestellt, wie in der Steinzeit! Fast werden sie dabei von einem blassen Turbanträger umgerannt, der mit einem riesigen Kreuz durch die Gegend hetzt und dabei einen Haufen johlender Kinder hinter sich herzieht.

0 1020 544698 00

Was hier echt ist? Nun, Patti Smith, die Rock-Ikone der siebziger Jahre, sammelt echte Steine und macht echte Fotos, und sie selbst kommt auch nicht in irgendeinem Drehbuch vor – das im Übrigen vor einigen Tagen gestohlen und nie wieder ersetzt wurde. Sie mag Schlingensiefs Dada-Theater und ist deshalb gekommen, als Touristin gewissermaßen.

Kanzler Schröder hingegen ist nicht der Kanzler. Im Hubschrauber, der für 20 Minuten von einer Diamantminengesellschaft gechartert wurde, sitzt in Wirklichkeit Produzent Frieder Schlaich mit einer Kamera.

Der Gouverneur ist auch kein Gouverneur, sondern Dirk Rohde aus Nienburg an der Weser, und der ist Globetrotter und macht nebenbei Videokunst. Klaus Beyer ist kein Yeti, sondern Hagen von Tronje, der Halbbruder des Burgunder-Königs Gunther; immerhin sind die Beatles tatsächlich seine Lieblingsband. „Area 7“ hingegen, dieser Slum hier im Südwesten von Namibia, ist leider ziemlich real, genauso wie seine Bewohner, die nun im Scheinwerferlicht der Kameras an der Suppenausgabe stehen.

Schlingensief liebt das Durcheinander: die verschiedenen Ebenen, die „Doppelbelichtung“, die „Dreidimensionalität“. Schlingensief, das ist Eigenblut-Doping. Der Mann berauscht sich an sich selbst.

„Der Raum wird zur Zeit. Das Werk wird zur Umgebung, und die Umgebung wird zum Werk.“ Das ist sozusagen sein Regierungsprogramm. Alles dreht sich, alles wird gedreht. Dafür stehen die Namibier oder Namibier-Darsteller nun etwas schwindelig mitten in diesem Zitaten- und Mythen-Gewitter der Nordmänner und beobachten misstrauisch, wie Schlingensiefs Leute wie in „Fitzcarraldo“ ein verrottetes Schiff durch die Gegend ziehen und auf den Animatografen wuchten.

Zum provokativen Kunstakt wird das alles erst durch den Zusammenprall: der deutsche Wahn hier und die afrikanische Ratlosigkeit dort. Oder sind es die Deutschen, die ratlos sind?

0 1020 544700 00

Schlingensief hat sich ein ziemlich humorloses Land ausgesucht für seine Aktion. Hier, zwischen Kalahari und Kolmannskuppe, sind Künstler weitgehend damit beschäftigt, die Regierungspartei Swapo zu ehren. Die hatte zwar, als sie sich noch im Widerstand gegen die Apartheid befand, nie einen Quadratzentimeter Heimatland befreit und galt deshalb auch nicht zu Unrecht als eine der erfolglosesten Truppen in der Geschichte der Befreiungsbewegungen.

Umso heldenhafter müssen nun allerdings ihre Denkmäler ausfallen. Namibias Gegenwartskunst lässt sich ganz gut auf dem „Heldenacker“ am Stadtrand von Windhuk betrachten: ein von Nordkoreanern gemeißelter Obelisk, vor dem Ex-Präsident Sam Nujoma mit Handgranate und Schießgewehr in Stein gehauen steht. Der staatlich geförderte Film verkitscht derweil das Leben des großen Führers zu der monumentalen Seifenoper „Wo andere wankten“.

Die Deutschen hatten es weiland natürlich nicht viel besser gemacht: Edle Reiter, in Bronze gegossen, zierten die Plätze der wilhelminischen Wüstenstädtchen, und zum Teil zieren sie sie noch heute. Dahinter Türmchen, Giebel und Mansardendächer – ein koloniales Disneyland im Wüstensand. Und unter dem Dornbusch wird abends Wurst gegrillt, und es erklingt „Heia Safari“.

Durch diesen ästhetischen Alptraum tobt nun Christoph Schlingensief: als Odin verkleidet, mit Augenklappe, wilder schwarzer Mähne und Fellgewand, begleitet von Edda, der Liliputanerin aus dem Hamburger Kleinwüchsigenverband, und Hagen von Tronje. Die drei schleppen sich an den Strand, die Sonne steht tief, das Wasser ist eisig. Dazu ertönt Wagners Götterdämmerung aus dem Ghettoblaster.

Hinten in den Dünen steht jetzt die verrottete Arche Noah vom Animatografen. Schlingensief überschüttet sich mit Mehl und Milch, hängt sich eine Alge, die Welt-Esche, um den Hals und stürzt sich halb nackt in die Fluten des Benguela-Stroms. Zwergin Edda, der nordische Mythenzyklus, sitzt am Ufer, halb schon im Wasser. Hagen von Tronje schwingt eine Schaufel und kämpft mit einem imaginären Feind, vermutlich versucht er, Siegfried zu meucheln.

0 1020 544704 00

Odin Schlingensief schleppt derweil eine Filmrolle ins Meer und versenkt sie, woge, du Welle!, in den Fluten. Patti Smith hat während dieser dramatischen Ereignisse lieber Strandgut gesammelt, und Fassbinder-Muse Irm Hermann, als Siegfried-Wagner-Gattin Winifred im schrill-rosa Kostüm, hat sich mit sich selbst beschäftigt.

Auf dem Fitzcarraldo-Schiff wanken zwei Masten im Wind – die New Yorker Twin Towers. Dann versinkt die Sonne blutrot im Meer.

Muss man das verstehen? In Namibia regt sich dumpfer Groll. Die Leserbriefspalten der namibischen „Allgemeinen Zeitung“ haben sich längst zum Zentralorgan des Volkszorns entwickelt. „Dieser selbstherrliche und arrogante Pinsel Schlingensief“ solle mal einige Zeit in einem Kral verbringen, fordert einer. „Ein abgefackelter, von sich selbst bis zur Lächerlichkeit eingebildeter Betrüger“, schäumt ein anderer, „Selbstdarsteller“, ein Dritter. Und einige schwarze Schauspieler fühlen sich laut Lokalpresse als „Freaks“ missbraucht, als Afrikaner-Darsteller – „unverdorben und spontan“.

Der deutsche Botschafter mosert auch, weil ihm Schlingensief bedeutet hatte, er möge sich deutlicher für die „Drecksveranstaltung der Deutschen zur Kolonialzeit“ entschuldigen. Und die rote Heidi Wieczorek-Zeul wurde von Schlingensief aufgefordert, die Namibier nicht länger mit ihrem Vaterunser-Kram zu belästigen. Nichts also, was einen ernstlich erschüttern müsste.

Doch Schlingensief wird die Geister nicht mehr los, die er als Provokateur der Nation rief. Nun wird schon reflexartig „Skandal“ geschrien, wenn er nur irgendwo auftaucht.

Dabei fühlt sich der „Melancholiker“ hochmoralisch. Er will auf das Elend des Kontinents hinweisen, „wo jeden Tag 35.000 Menschen sterben, während in den Twin Towers nur 3500 ihr Leben ließen“. Er hasst das penetrante Gejammer terrorismusfixierter Angstbürger mit ihrem „Flashbild des 11. September“: „Wenn einer falsch einparkt und hat einen langen Bart und einen Turban auf, dann ist das wahrscheinlich schon ein Terrorangriff.“ Und ihn stößt die Lea-Rosh-Denkmalskultur ab, die jedes Andenken in Blockform beerdigt.

Nun zieht er mit seinem Animatografen durch die Welt, sammelt Bilder und dokumentiert sie. Im brandenburgischen Neuhardenberg hat die Drehbühne schon gestanden und in Island. Wenn die Sache in Namibia vorbei ist, soll es weitergehen nach Bakhtapur in Nepal und Manaus im brasilianischen Regenwald. Er wird die Bilder aus Namibia den Nepalesen zeigen und den Brasilianern die aus Nepal und dokumentieren, wie sie darauf reagieren.

Auf dem wackligen Gerüst stehen jetzt Siegfried Wagner (Norbert Losch) und Gattin Winifred. Sie freuen sich über die so zahlreich angereisten Slumbewohner, über die Journalisten vom „Opernglas“ und von der „Allgemeinen Zeitung“, über den schönen Slum, den sie gestiftet haben, und das gute Wetter.

Siegfried und Wini wollen in Namibia die Wagner-Festspiele veranstalten, sie strahlen wie die Honigkuchenpferde – bis Wieland (Robert Stadlober) im Mephisto-Look auftaucht und der johlenden Masse „they use you, they use you“ zuruft und Wagner-Spross Katharina (Katharina Schlothauer) „I hate my parents, I hate my parents“ monologisiert.

Mit der wagnerischen Familienkabale neigt sich ein ereignisreicher Tag im Slum dem Ende. Schon geht das Flutlicht an, die einzige Lichtquelle im Umkreis einiger Kilometer.

Patti Smith erzählt noch etwas von Riesen und Erlösung. Hagen von Tronje kämpft mit einem Pappschwert gegen einen herbeigekarrten Raupenbagger. Aus dem Lautsprecher schallt Hans Albers‘ Fliegerlied, und einer der Schauspieler hüpft als Pinguin verkleidet durch die Gegend.

Er ruft, die Deutschen im Allgemeinen und Richard Wagner im Besonderen seien die „most fascistic people in the world, arrogant and capitalistic“.

Das, sagt Schlingensief nachher in der Suppenschlange erschöpft, sei doch nur Geldofwieczorekzeulgrönemeyerfischer-Ergriffenheitsprosa gewesen.

Der neue Staatsjargon, den er nicht mehr hören mag; die Sprache der Berliner Republik, deren Narr er nicht mehr spielen möchte; „das Gelaber vom Prenzlauer Berg, der Symposien und Sozialwissenschaftler“.

„Area 7“ balgt sich nun an der Suppenausgabe. Es ist kalt geworden; Schlingensief fröstelt. Er hat ein Rückflugticket in der Tasche, doch er möchte nicht nach Hause. In Deutschland warten „ergriffene Personen“, in Manaus lockt der tropische Wald. Schlingensief sieht sich, Humboldt-Aufzeichnungen im Tornister, durch die grüne Hölle ziehen. Oder im Himalaya: die Wagners bei den Nepalesen aufführen.

Vorher aber muss er eine Gastprofessur antreten. In Braunschweig. Man muss Kompromisse schließen. Zum Trost kommt von der Wüste ein großer Wind.