MEIN IDEALER KÜNSTLER ZURZEIT (FAZ)

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Am Dienstag bekam Christoph Schlingensief in Düsseldorf den Helmut-Käutner-Preis verliehen. Es galt also nicht nur den Filmregisseur zu preisen, der dem Kino im Laufe der Jahre leider abhandengekommen ist, sondern auch einen Künstler, der in seinem Werk Tapferkeit, Konsequenz und Reflexion verbindet.

Von Georg Seeßlen

Wer einen Künstler preisen will, der muss wohl damit herausrücken, was er für die ideale Kunst zurzeit und wen er für einen Künstler hält, der dem nahekommt. Und genau darum soll es im Folgenden gehen: um die Frage, was Kunst zurzeit können, dürfen und wollen sollte und was Christoph Schlingensief damit zu tun hat.

FAZ 04.03.2010

Der Künstler, meiner bescheidenen Meinung nach, ist ein Mensch, der ICH sagen kann, nicht so sehr zu sich selbst als vielmehr zur Gesellschaft. Das scheint nun vielleicht ein wenig verwirrend angesichts einer Gesellschaft von Egomanen, Egozentrikern und vor allem Egoisten. Eine Gesellschaft, in der Geiz geil ist und der ichsüchtige Aktionär an der Vernichtung von Arbeit verdient, eine Kultur, in der eine Band „Me First and the Gimme Gimmes“ heißt, „Zuerst komm‘ ich, und dann gib mir das, gib mir dies“, und in der eine Bank gutgelaunt verkündet: Unterm Strich zähl ich. Ich sagen in einer Gesellschaft, die offensichtlich vom Ich-Sagen besessen ist, das soll Kunst sein?

Genau dies. Denn nichts hat uns von der Kunst des Ich-Sagens so entfernt wie der hysterische Narzissmus im späten Kapitalismus. Das Subjekt, so scheint es, schreit gegen seine Auflösung an, statt sich aufzuraffen, will es gefüttert werden, statt sich der Welt zu stellen, flüchtet es in die Innenräume. Dieses Ich des Spätkapitalismus – entschuldigen Sie das etwas abgegriffene Wort, aber leider ist noch niemandem ein besseres eingefallen – das Ich des Spätkapitalismus also ist zugleich übermächtig und bedeutungslos. Dagegen muss etwas getan werden. Unter anderen mit den Mitteln der Kunst.

Der Künstler ist ein Mensch, der Dinge tut, die ihm vollkommen entsprechen. Und auch das sagt sich so leicht und klingt erst einmal nach Authentizität und Selbstverwirklichung und Nichtentfremdung. Aber es ist viel fundamentaler. Was Kunst ist, das wird in einer liberalen Gesellschaft in aller Öffentlichkeit ausgehandelt. Künstler ist derjenige, von dem das, was er macht, als Kunst ausgehandelt worden ist. Das ist, was die Kunst anbelangt, zwar höherer Blödsinn, soziologisch aber, fürchte ich, sowohl zutreffend als hinreichend. Daher ist das Entscheidende daran, ob man Parteigründungen, Talkshows oder ihre Travestie, eine Kirche der Angst, Container-Geschehnisse oder Plakate mit der Aufschrift „Tötet Helmut Kohl“ als Kunst ansieht, ob man darunter „nur“ Kunst versteht, also die ästhetische Dekoration, das Narrenspiel, die Begleitmusik der Gesellschaft, und das alles womöglich selbst marktfähig, oder aber ob es schon Kunst ist, der Ein- und Vorgriff, die utopische Arbeit an den Möglichkeiten, vielleicht der Widerspruch zu Adornos Donnersatz: Wenn es schon Kunst ist, dann ist es vielleicht genau das richtige Leben im falschen.

Vorneweg: Die Kunst eines Christoph Schlingensief besteht nicht zuerst darin, mit den richtigen Mitteln die richtigen Aussagen zu treffen oder die richtigen Prozesse einzuleiten. Die Kunst des Christoph Schlingensief besteht darin, aus freien Stücken Christoph Schlingensief zu sein. (Apothekersohn und Künstler.) Das ist keine leichte Sache.

Zum Zweiten bilde ich mir ein, dass jeder gute Künstler zurzeit ein Anarchist sein muss. Ich meine damit nicht, dass er Bomben werfen soll, ich meine auch nicht diesen wohlfeilen Anarchismus der Verhaltenscodes, nach dem schon ein Künstler ist, wer im selbstgestrickten Pullover erscheint, wo alle anderen schwarze Anzüge tragen. Ich meine damit, dass ein Künstler jemand ist, der in Staat und Gesellschaft weder die letzten noch die besten Institutionen für die fundamentalen Fragen der Menschen sieht. Ich meine auch, ein Künstler zurzeit ist ein Mensch, der den Kapitalismus nicht als beste und endgültige Form ansieht, die Beziehungen der Menschen untereinander zu regeln. Mein Künstler zurzeit jedenfalls sagt, dass der Sinn des Lebens nicht in der Regierbarkeit und nicht in der Marktfähigkeit des Menschen liegt.

Dass Christoph Schlingensief, der Apothekersohn aus Oberhausen, betont, dass er eine durchaus glückliche Kindheit erlebt hat, ist bei alldem vielleicht mehr als ein kleiner sympathischer Schlenker der Biographie, zumal für einen Insassen meiner Generation, für die der Generationenbruch, politisch wie ästhetisch, so bestimmend war. Wer erdreistete sich da, Kunst machen zu wollen, ohne ein anständiges Kindheitstrauma?

Christoph Schlingensiefs Kunst beginnt damit, dass er sich zu selbiger bekennt. Zur besagten glücklichen Kindheit, dazu, ein Kleinbürger zu sein, ein Halbintellektueller, ein altkatholischer Ministrant, der vom „Beichtfilm“ träumt. Es ist wichtig, dass da einer spricht, der nicht von oben, sondern aus dem Gewöhnlichen spricht, der niemals das Gewöhnliche verachtet. Und wichtig ist das auch deswegen, damit niemand die Selbstermächtigung des Künstlers mit der Anmaßung verwechselt. Christoph Schlingensief geht mit anderen Menschen mit großem Respekt, pathetisch gesagt: mit Demut und Würde um.

Der Künstler Christoph Schlingensief erklärt sich selbst nicht aus dem Mythos von Opfer und Leiden, sondern aus dem Projekt der Freiheit. Daher wird bei ihm nicht die Neurose zum Film, sondern er kann umgekehrt den Film als Neurose erkennen, und so heißt denn auch eine seiner Arbeiten. Er behandelt das Kino wie eine Krankheit, die es zu überwinden gilt, durch Armut zum Beispiel, durch Direktheit. Der 60-Minuten-Film ,,100 Jahre Adolf Hitler – die letzte Stunde im Führerbunker“ wurde an einem einzigen Tag gedreht, kein Kino mehr als verbesserte Wirklichkeit, sondern Film als frontal attackiertes Leben. Darum ist das Statement von „Die 120 Tage von Bottrop“ wichtig, dass der Regisseur nicht mehr an das Kino glaubt. Denn es ist die Negation eines Kinos, an das man glauben muss, statt es zu verstehen.

Und daher werden Opfer und Leiden durchaus wichtige Themen im Werk. Sie sind ja in der Welt, die Opfer und das Leiden. Und sie sind es auch wieder nicht, insofern die Kunst nur eine lockere und aufgeklärte Beziehung zur magischen Biographie hat. Wollten wir einen Unterschied zwischen, sagen wir, Rainer Werner Fassbinder und Christoph Schlingensief ziehen, dann läge er primär in der Tatsache, dass jemand wie Fassbinder das Kino zum Überleben gebraucht hat und dass er im Kino gelebt hat. Schlingensief dagegen riskiert sogar die Zerstörung dieses Überlebensmittels, um seine Beziehung zur Welt zu klären. Das hat nicht nur mit den Personen zu tun, das hat auch mit der Entwicklung der Kultur, der Gesellschaft, der Medien zu tun. Und ich versprach ja, vom idealen Künstler dieser Zeit zu sprechen. Ich möchte also drei Grundvoraussetzungen für das nennen, was ich als gute Kunst zur Zeit empfinde. Die erste ist, es hat sich im Vorherigen schon angedeutet: Tapferkeit.

Damit ist nicht nur gemeint ein Mut zur Provokation, sondern die Entschlossenheit, dem Sturm, den man entfacht, auch selbst standzuhalten. Die Tapferkeit der Kunst zurzeit liegt darin, dass man Künstler sein muss, um ein Wort von Jean-Luc Godard zu zitieren, ohne die Hilfe der Götter. Christoph Schlingensiefs Filme bis hin zu „Die 120 Tage von Bottrop“ zeigen die Abwesenheit der Götter, auch die der Filmgötter, der Väter des neuen deutschen Films zum Beispiel, Fassbinder, Kluge oder Herzog, in der Zertrümmerung ihrer Bilder. Und dabei war Schlingensief paradoxerweise einer der ganz wenigen, die ihre Abwesenheit zur Kenntnis nahmen. Schlingensiefs künstlerische Tapferkeit umfasst immer das Gewahrwerden des Verschwindens und des Verschwundenen.

Das zweite Merkmal für die Kunst zurzeit scheint mir die Konsequenz. Die Durchführung einer Sache bis zu jenem Zeitpunkt, an dem sie sich vollständig offenbart hat. Es ist die Konsequenz, sich immer wieder neu auszusetzen, unter anderem auch, was die Überschreitung der Kunstsphäre anbelangt, das Paradoxon des genialen Dilettantismus immer wieder neu anzusetzen. Scheitert man, ist man nur noch Dilettant und nicht mehr genial, ist man erfolgreich, ist man nur noch genial, aber kein Dilettant mehr. Gleichzeitig aber ist genialer Dilettantismus die Voraussetzung für die Wiedererringung der Unschuld in der Kunst.

Das Dritte schließlich ist die Reflexion. Das Kunstwerk ist keine mystische Einheit mehr, sowenig, wie der Autor ein mystischer Kreator ist. Die Frage, wie viel Politik man der Kunst zumuten kann, wie viel soziale Konkretion, die stellt sich dauernd neu. Sie führt von einer Geste gegen die Obrigkeit zum humanistischen Projekt der Solidarität. Das heißt: Reflexion bedeutet nicht unbedingt, dass der Künstler selbst heftig ins Grübeln kommt über das, was er da angerichtet hat, obschon so etwas keineswegs verboten ist, es bedeutet vielmehr eine Offenheit der Kunst, die den Diskurs initiiert.

Tapferkeit, Konsequenz, Reflexion, damit habe ich die drei Elemente benannt, die der Kunst als, wiederum ein Wort von Godard, „konkrete soziale Geste“ eigen sind. Es ist die Selbstermächtigung, der Welt aus freien Stücken zu begegnen. Das trifft schließlich auch auf die existentielle Erfahrung zu, auch der Krankheit kann man aus freien Stücken, mit Tapferkeit, Konsequenz und Reflexion entgegentreten.

Nun gibt es neben den Elementen der konkreten sozialen Geste in der Kunst auch eine ästhetische Immanenz, und wundersamerweise besteht diese meiner Auffassung nach ebenfalls aus drei Elementen. Das erste ist Musikalität.

Damit meine ich ein wenig mehr als Diedrich Diederichsen, der einmal in einer wunderbaren Coda nach einer durchaus kritischen Auseinandersetzung mit dem Künstler notiert hat, nach einer Schlingensief-Inszenierung ginge man nach Hause wie nach einem Rock-Konzert. Ich meine damit vor allem das Gespür für Rhythmen, Strukturen, Verwandtschaften und Beziehungen, kurzum Komposition, und das für die notwendigen Störungen, Brechungen, Retardierungen. Gehen Sie einmal das Wagnis ein, ein scheinbar so chaotisches Geschehen auf der Bühne, im Film oder auf der Straße mit einer Fuge von Bach zu vergleichen: Sie werden verblüfft sein. Erst dadurch, dass beides aufeinandertrifft, das diskursive Geschehen und die immanente Musikalität, wird aus einer Konfrontation ein Kunstwerk.

Das zweite ist die Ikonität. Wiederum meine ich damit mehr als das Sichtbarmachen, und sei es das Sichtbarmachen von Behinderten, von Arbeitslosen, von Ausgegrenzten und Abgeschobenen. Ich meine, dass es in dieser Form der freien Inszenierung immer auch Bilder, große Tableaus sozusagen, gibt, die viel mehr sind als Abbildungen dessen, was geschieht. Die Schlingensiefsche Kunst-Maschine, die situative Spannungen erzeugt, ist immer auch eine Maschine zur Herstellung von Bildern und – Selbst-Bildern.

Das dritte ist, Sie haben es geahnt, die Literarität. Und wiederum meine ich damit nicht allein den Schlingensief-Jive, der längst eine ganz eigene Sprachmelodie erzeugt hat, diese Komposition von Schlagworten, Slogans, Verdrehungen und Appropriationen, diesen Schwall der Verdichtungen. Ich meine, dass seine Arbeit so sehr wie auf Bilder und Musik auf Text basiert. Einer der ersten Bezugspunkte des jungen Christoph Schlingensief war der französische Dichter Charles Baudelaire; und wie wäre es, wenn man das eine oder andere Werk von ihm noch einmal ganz anders, nämlich als Illustration, ja als Fortsetzung eines Poems à la Baudelaire ansehen würde? Aus alledem jedenfalls wird nicht das, was man modisch und gedankenlos gern das Gesamtkunstwerk nennt, mit allem Wagnerschen, Riefenstahlschen und Hitlerischen, was dabei mitschwingt. Es geht im Gegenteil um die offene Polyphonie, um die Entdeckung und die Errettung des Einzelnen. Die Dinge sagen ICH in den Arbeiten von Christoph Schlingensief, die Bilder, die Worte, die Musik: Es sind Anarchisten in eigener Sache. Und jede Inszenierung ist die Feier der Dinge, der Subjekte, der Botschaften, die ihren Wert haben. Diese Kunst ist dazu da, den Dingen der Welt ihren Wert zurückzugeben (wenn man will, kann man dazu ein bisschen bei dem Philosophen Hans Blumenberg nachlesen). Dessen schönster Satz: Philosophie ist das, worauf man beinahe selbst gekommen wäre. Und die Kunst? Genau. Kunst ist das, was man am liebsten selbst gemacht hätte. Und das passt besonders bei der von Christoph Schlingensief.

Also noch ein Schlüsselsatz von Christoph Schlingensief: „Kunst wird erst dann interessant, wenn wir vor irgendetwas stehen, das wir nicht restlos erklären können.“ Es ist also eine politische Kunst mit offenem Ausgang, eine Kunst, die sich gewiss keiner Ideologie zum Komplizen eignet. Meine ideale Kunst zurzeit verzichtet darauf, perfekt, geschlossen und harmonisch zu sein. Sie ist dagegen dringend notwendig. Sie will uns herausführen aus einer selbstverschuldeten Lähmung. Sie kann uns lehren, am richtigen Ort Ich zu sagen und das Spiel von Profanierung und Heiligung nicht nach den allgemeinen Regeln, sondern aus freien Stücken aufzunehmen.

Eine Kunst wie die von Christoph Schlingensief ermächtigt nicht nur den Künstler, sie ermächtigt den Menschen gegen die Mikro- und Makrophysik der Macht. Sie beantwortet die Frage: „Sind wir noch da?“ Oder wenigstens stellt sie diese notwendigste aller Fragen. Und allein dafür, wenn nicht ganz nebenbei auch noch eine Menge Schönheit im Spiel wäre, gebührt Christoph Schlingensief noch mehr als ein Preis: Nämlich unsere genaue Aufmerksamkeit, unser Hinschauen und Hinhören.

Der Text ist eine gekürzte Fassung der Laudatio, die Georg Seeßlen in Düsseldorf hielt.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.03.2010, Nr. 53, S. 38