Der Namibier Friedhelm von Seydlitz und seine Familie betreiben in dritter Generation die „Immenhof Guest Farm“, 50 km nördlich von Omaruru auf halber Strecke zwischen dem Etoscha National Park und Swakopmund an der Küste. Am Rande der Dreharbeiten, die von Seydlitz und Sohn Werner eine zeitlang begleiteten, sprach er mit Christoph Schlingensief über die deutsche Vergangenheit, die afrikanische Zukunft und darüber, daß die Weißen auf dem Schwarzen Kontinent nur ein Stamm unter vielen sind.
Schlingensief: Während unserer Dreharbeiten haben wir von offizieller Seite viele Informationen über die Entwicklungshilfe, speziell die deutsche Hilfe, erhalten. Wie steht es um die Entwicklungshilfe in Namibia und die Entwicklung der Bevölkerung aus Deiner Sicht, aus der Sicht eines Menschen, der hier lebt?
Von Seydlitz: Namibia ist ein freies Land mit wenigen Menschen. Das ist ein großer Vorteil. Aber wir haben eine neue Problematik. Die Geschichte hat uns dazu gebracht, daß wir weiße Menschen in dieses Land hereingekommen sind. Wir sind hier bunt zusammengewürfelt aus mehreren Stämmen, ein Stamm davon sind wir Weißen. In Zukunft wird es ein wirtschaftliches Problem sein, daß der weiße Stamm stark abnimmt, weil zu wenige Kinder geboren werden; und die schwarze Bevölkerung, von welchem Stamm auch immer, wird noch gewaltiger abnehmen – durch Aids. Das ist ein Problem, daß die Politik leider viel zu wenig anspricht. Aber es muß gelöst werden!
Ansonsten sehen wir eine sehr positive Entwicklung in Namibia. Es geht weiter! Der Unabhängigkeitsprozeß, der innerlich, in den Köpfen der Menschen, die hier leben, wirklich stattfindet, muß allerdings auch auf offizieller Ebene noch stattfinden. Es darf nicht noch einmal die Geschichte wiederholen, daß der Europäer hierherkommt, den Schwarzen dominieren will, weil er sich selbst als etwas besseres erachtet, so wie ehemals in Amerika, in Südamerika oder in der gesamten Dritten Welt. Selbst wenn sie mit Liebe, mit vollem Einsatz hierherkamen, wenn sie sagten „Komm, wir tun! Komm, wir machen!“, hier in Afrika ging es ihnen immer ums Dominieren. Das ist meines Erachtens ungesund. Afrika möchte sich heute selbst beweisen. Und ich denke, Afrika sollte dazu das Recht haben. Auch wir sind Afrikaner, auch ich. Ich bin hier geboren, dritte Generation. Ich bin Afrikaner! Ich höre heute in Afrika einen Aufschrei: „Laßt uns machen! Laßt es uns beweisen!“
S: Wie so oft versickert auch in diesem Land die Entwicklungshilfe. Bei Entwicklungshilfe denke ich an Wasserlöcher, an Kindergärten etc. Was hältst du von der Entwicklungshilfe, die aus Deutschland kommt? Wie sollte Entwicklungshilfe deiner Meinung nach aussehen?
Von Seydlitz: Entwicklungshilfe darf nie die Dominanz eines Stammes über einen anderen sein. Entwicklungshilfe muß, wenn sie denn geleistet werden soll, von denjenigen angefragt werden, die sie auch erhalten. Es darf nicht so sein, daß jemand kommt und sagt „Wir haben soviel Geld, das muß jetzt mal in Namibia untergebracht werden, damit die Leute da endlich auf unserem Standard leben“. Dabei brauchen viele Stämme weder Wasserleitungen noch Schulen. Ich stelle heute die Frage: Warum soll z.B. ein Overhimba europäisch entwickelt werden? Wozu? Wofür? Wohin? Was soll er eines Tages tun? Der Himba ist heute der unabhängigste Mensch, der Himba-Stamm der unabhängigste Stamm der Welt. Er ist eine klasse Antwort auf die Frage: „Wozu und wohin Entwicklungshilfe?“
S: Da werden einige z.B. dagegen halten, die christliche Mission hätte Gutes gebracht.
Von Seydlitz: Ein schwarzer Prediger hat zu mir gesagt: „Es ist etwas Schönes, ihr Weißen habt uns die Frohe Botschaft Christi gebracht, das Evangelium. Damit konnten wir sehr gut klarkommen, denn wir haben schon immer mit unseren Ahnen gelebt, mit unseren Ahnen gesprochen. Ein Gottvater als Schöpfer, Jesus Christus als sein Sohn und der Heilige Geist waren für uns schon immer etwas ganz Normales; daß Jesus für uns gestorben ist und seine Rückkehr angekündigt hat, ganz normal…“ Und dann sagte er mir etwas sehr Interessantes: „Heute müssen wir euch missionieren, euch Weiße!“ Das hat mir die Augen geöffnet. Auf der anderen Seite fragte er: „Warum habt ihr uns eure Zivilisation aufgezwungen, eure Kultur, eure Lebensweise? Warum durften wir nicht bleiben, wie wir waren, frei, unabhängig, angepaßt an das Leben in Afrika?“
S: Wenn ich hierherkomme und sage, wir machen jetzt den Großgrundbesitzer, gehen in das Township AREA7, führen da eine Oper auf, bringen Kultur, tun was für euch, setzen uns aber nach drei Wochen wieder in den Flieger und sind wieder weg, auch die deutsche Entwicklungshilfeministerin landet nicht am Animatographen… Wie findest du das?
Von Seydlitz: Deutsche Kultur und Entwicklungshilfeministerien, das ist alles Schnee von gestern. Wir haben keine Zeit mehr, über Apartheid zu reden, über Großgrundbesitzer. Das ist vorbei. Es ist unsere Geschichte, aber es ist vorbei. Heute sind wir in Namibia 15 Jahre unabhängig, der Schwarze ist seit 15 Jahren fähig, eine Regierung zu führen und unabhängig zu werden, langsam, aber es funktioniert. Wenn du diese alten Probleme wieder thematisierst, tust du unserem Land und seinen Menschen nichts Gutes. Frage nicht nach der Vergangenheit, frage statt dessen: „Was ist mit heute, was tun wir heute, wo hat heute jeder Mensch seinen Platz?“ Meine größte Sorge heute ist: Was dürfen wir produzieren? Dürfen wir in dieser globalisierten Welt noch etwas anderes produzieren als Rohprodukte? Dürfen wir selbst etwas produzieren oder müssen wir nur fertige Produkte zurückkaufen? Wie sieht die neue Abhängigkeit oder Unabhängigkeit aus?
S: Was können wir als Künstler, die wir jetzt hier angereist sind, noch machen? Sollen wir uns lieber völlig raushalten?
Von Seydlitz: Stellt den schwarzen Menschen als tollen, erwachsenen, selbstständigen Menschen dar! Er ist es! Laßt sie sich selbst beweisen! Hört auf, sie zu dominieren! Zeigt, daß Afrika unabhängig ist und sein kann! Das wäre revolutionär, hier und auch bei Euch! Hört auf, vom „armen schwarzen Bruder“ zu reden! Wir müssen uns innerlich umstellen wir müssen sagen: „Ja, wir bewegen uns auf demselben Level.“ Der Schwarze hat Fähigkeiten gehabt, die wir ihm mit unserer Dominanz genommen haben. Die einzigen Dominanzen, die wir wirklich hatten, waren Technik und Medizin. Und – war unsere Medizin gut?