Mosaik. Kolumne aus der ZEIT Nr. 19, 6. Mai 2010
Wird er nun abgerissen? Wird Christoph Schlingensief endlich tun, wovon so viele Künstler vor ihm nur träumten, wird er den deutschen Pavillon in Venedig in einen großen Haufen Schutt verwandeln? Unzählige Maler und Bildhauer haben sich schon an diesem Bau abgerackert, haben ihn aufgestemmt, aufgebohrt, verhängt, zugestellt, ausgeweidet, weil sie es unerträglich fanden, ihre freie Kunst in einem solch unfreien Gebäude zeigen zu müssen. 1938 war der Pavillon von den Nationalsozialisten umgestaltet worden, im damals allseits beliebten Kühlschrankklassizismus. Auch der Theater-, Opern-, Film- und Kunstmensch Schlingensief, der nun für das nächste Jahr nach Venedig eingeladen wurde, wird an der Frage nicht vorbeikommen, wie sich an diesem falschen Ort eine richtige Ausstellung machen lässt. Wer das Bauwerk abreißen oder zumindest dessen Geschichte links liegen lassen will, der wird sofort zu hören bekommen, er verdränge die Geschichte und sei ganz gewiss ein schrecklicher Normalisierer. Umgekehrt ist die ewig-eifrige Beschäftigung der Künstler mit Ihrem Pavillon mittlerweile zu einer sündenstolzen Art von NS-Fixierung und Geschichtskult geworden und führt nicht selten, wie erst im letzten Jahr zu besichtigen war, zu den ödesten Verrenkungen. Der Pavillon ist also in Wahrheit eine Riesenfalle, doch wenn es einen gibt, der auf wunderbar verspielte, großartig unerbitterliche, immerzu politische und grandios poetische Weise einen Ausweg findet, der nicht ins Vergessen, sondern ins Erinnern führt, dann Schlingensief. Wir freuen uns auf ihn, auf seinen Ritt hinein ins Unmögliche, in ein Reich voller Fixierungen und Projektionen. Einen besseren Traumatherapeuten als ihn hat die Kunstwelt derzeit nicht zu bieten.
RAU, DIE ZEIT Nr. 19, 6. Mai 2010