Christoph Schlingensief spielte im Mozarteum sein Leben vor: vom Messdiener zum Mythenforscher. Darin versteckt war die Rolle des Münchhausen, Lügenbaron.
Salzburger Nachrichten vom 03.12.2005
Von KARL HARBSALZBURG (SN).
Christoph Schlingensief: Der Name stand einst richtig reflexartig für Provokateur. Er rief: „Tötet Kohl!“ (österreichische Variante: „Tötet Schüssel!“). Mit Hilfe von sechs Millionen Arbeitslosen wollte er den Wolfgangsee derart zum Überlaufen bringen, dass des damaligen deutschen Bundeskanzlers Urlaubsdomizil in St. Gilgen überflutet werde. Dann besann er sich seiner katholischen Wurzeln, gründete die „Church of Fear“, die Kirche der Angst, ließ in deren Auftrag auf der Biennale von Venedig ausgewählte Personen tage- und nächtelang Pfahlsitzen (Simeon, der Säulenheilige!), veranstaltete Prozessionen. Dann erhielt er die höchsten Weihen: Wagners „Parsifal“ auf dem Grünen Hügel von Bayreuth inszenieren zu dürfen. Da traf endlich ein Gesamtkunstwerker einen gleich Gesinnten.
Der Mythos lässt Schlingensief nicht los. In Island, Neuhardenberg, Namibia, demnächst an der Wiener Burg setzt er seine Raum-Zeit-Erkundungen mit dem „Animatographen“ fort, einer mobilen Drehbühne für Film-Theater.
Aus dem Oberhausener Apothekersohn und ehemaligen Messdiener wurde ein Prophet und Prediger, der wiederum mutierte zum Mythenforscher, in dem immer ein gutes Stück Münchhausen (der Lügenbaron!) stecken mag. Am Donnerstag erzählte, eskortierte, schwadronierte sich Schlingensief im Salzburger Mozarteum, von seinem Freund-Gesprächspartner Peter Michalzik sich nicht sonderlich stören lassend, durch sein Leben und Werk. Eigentliches Thema: Religion. Kurzes Resümee: Religion ist Transformation, Suche nach den
verlorenen Bildern. Der Auftakt zur neuen Festival-Serie „Dialoge“, mit der die Stiftung Mozarteum zentrale Begriffe zu Leben und Werk Mozarts mit zeitgenössischen „Interventionen“ zusammenbringt, geriet stark und mitreißend.
Mehr als zwei ununterbrochene Stunden vollführte Schlingensief mit Videoeinblendungen einen virtuosen Monolog. Aberwitzige Volten schlagend, gelang es ihm dennoch, vier, fünf, sechs Fäden gleichzeitig fein zu spinnen, zu verwirren und dennoch im Knäuel seiner Gedanken fest in der Hand zu behalten und wieder aufzudröseln. Was war da wahr, was Lüge? Schlingensief ist ein (Ver-)Wandlungskünstler: Er entgleitet sofort, wenn man denken mochte, jetzt habe man ihn endlich einmal in der Hand.
Im labyrinthischen Wortschwall des Geschichtenerzählers glänzte purstes Entertainment-Gold auf. Seine Stolperwege als Ministrant, seine Story der Verpflichtung nach Bayreuth – bis hin zur dänischen Pastete, die ihm Gudrun Wagner in Berlin, sie eben von der dänischen Königin empfangen habend, zum persönlichen Geschenk machte: hinter-, abgründige Kabinettstücke.
Aber hinter allem launenhaften Quiproquo war auch das Andere zu erkennen (vielleicht): ein Ernst des Denkens, ein nachgerade ethisches
Sendungsbewusstsein, nicht zuletzt: eine Arbeit von höchster Präzision – des Ideengebers, Animators, (Selbst-)Inszenators, die ihn längst aus der Rolle des Provokateurs hinaus katapultierte. Bayreuth habe eine Wende gebracht. Jetzt könne er alles machen, sagte Schlingensief schon im SN-Interview. Das Famos-Beängstigende daran: Schlingensief kann wirklich viel, wenn nicht alles. Zumindest hat er es seinen höchst animierten Zuhörern am Donnerstag wenigstens perfekt vorgelogen…