»MENSCHEN MACHEN MIR ANGST« (SHZ)

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Der Regisseur Christoph Schlingensief bringt morgen sein Werk „Via Intolleranza II“ in der Hamburger Kampnagelfabrik auf die Bühne.

Christoph Schlingensief (49) hat Lungenkrebs. Trotzdem arbeitet er wie ein Besessener. Er baut in Burkina Faso ein Operndorf, obendrein hat er mit afrikanischen Laiendarstellern sein Stück „Via Intolleranza II“ inszeniert. Die Initialzündung dafür gab Luigi Nonos Oper „Intolleranza 1960“. Sie ließ Schlingensief hinterfragen, warum Weiße Afrikanern ständig helfen wollen.

Herr Schlingensief, Sie sollten Nonos Oper „Intolleranza 1960“ in Budapest inszenieren. Warum haben Sie das abgelehnt?

Weil ich es dekadent fand, eine Geschichte über Konzentrationslager, Folter und Landflucht in einem Opernhaus aufzuführen. Wenn ein durchtrainierter Sänger solche Sachen vorträgt, mag das akustisch vielleicht ein Genuss sein. Nur stimmt das Bild für mich nicht, darum hätte ich inhaltlich nichts mehr geregelt gekriegt.

Passt diese Thematik für Sie eher nach Afrika?

Ich habe die Bewohner von Burkina Faso gefragt, was sie mit Landflucht verbinden. Sie antworteten: „Wir kennen dieses Problem gar nicht.“ In Afrika geht man in die Stadt, weil man sich dort für seine Familie eine bessere Einnahmequelle erhofft. Mit Abhauen hat das nichts zu tun, zumal die meisten sogar wieder zu ihren Angehörigen zurückkehren.

Klingt, als konnten die Afrikaner mit Nonos Werk nichts anfangen.

Das ist doch genau der Punkt. Wir Europäer glauben zu wissen, was in den Afrikanern vorgeht, was sie brauchen. Dabei wurden diese Berichte, die wir über den schwarzen Kontinent sehen, zu 95 Prozent von Weißen gemacht. Das sind reine Trugbilder, die letztlich keine Relevanz haben.

Welchen Eindruck haben Sie denn von den Afrikaner gewonnen, als Sie mit Ihnen an „Via Intolleranza II“ arbeiteten?

Dieses Künstlergetue „Meine Stimme ist weg, ich brauche eine Pause“ kennen die gar nicht. Sie sind weniger wehleidig als wir. Durch sie bin ich auch wieder robuster geworden. Vor den Proben war ich völlig im Eimer, ich kam morgens nicht aus dem Bett. Bis ich mir sagte: Jetzt mach’ mal Schluss mit dem kranken Theater und geh’ in die Vollen.

Nähern Sie sich Ihrer Arbeit heute eigentlich anders an als früher?

Als ich 1998 meine Partei Chance 2000 gründete, dachte ich: Wir müssen jetzt alle zusammen irgendwas in diesem Land machen. Davon habe ich mich gelöst. Ich kann mit Menschen nicht mehr so viel anfangen, im Moment machen sie mir eher Angst.

Warum?

Weil wir so eine Gesellschaft von Selbstgeschädigten sind. Sobald jemand halbwegs gesund ist, haben wir ein Problem damit. Das Schöne, das Normale können wir gar nicht mehr ertragen. Nur was irgendwie krank oder kaputt wirkt, ist halbwegs akzeptabel für uns. Andererseits sind wir Weltmeister im Verkleiden, um bloß nicht die Wahrheit sehen zu müssen.

Wie meinen Sie das?

Nehmen Sie den Euro, da wollen wir die Totalkatastrophe nicht wahrhaben. Wir reden uns ein: Wird schon alles gut. Trotzdem ist ganz tief in uns eine Höllenangst.

Quelle: Schleswig-Holsteinischer Zeitungsverlag, 22. Mai 2010
Von Dagmar Leischow