Wien – Am Anfang, war – sagen wir jetzt einmal, weil wir ja irgendwo anfangen müssen – Bayreuth. Am Anfang war ein Regisseur, der bei der Arbeit am Parsifal sagte: „So, das wird zu statisch. Wir haben ein Problem. Wir brauchen eine Drehbühne.“ Und die Bühne, überfüllt wie ein Wellblechgetto, begann sich zu drehen, bis man nicht mehr wusste, wo vorne und hinten war, und Filme, auf mehrere Leinwände projiziert, ergänzten sich im Rhythmus der Musik, sprachen miteinander, störten einander, erregten manchen Opernfreund, und viele riefen nachher vor dem Festspielhaus: Was für eine heillose Überforderung!
Wie so oft, wenn Christoph Schlingensief sein Heil in der Heillosigkeit gefunden hat, war genau diese Überforderung Impuls für Neues: Der Theater- und Filmemacher entwickelte einen „Animatographen“, eine Reise-, Spiel-, Kino- und Lebensbühne. Eine Drehscheibe, an jedem Ort, wo sie errichtet wird, neu gefüllt mit containerartigen Gebilden, in und auf denen sich in steter Bewegung Kinobilder und Spielsituationen von selbst in- und übereinander schneiden. Oft aktionistisch und live begleitet von Schlingensief und Laien wie dem ehemaligen Kerzendreher und Beatles-Übersetzer Klaus Beyer oder der kleinwüchsigen Karin Witt.
Parkett frei?!
Die ziehen dann als Odin, Hagen von Tronje und Ebba auf die Suche nach den Wurzeln der Weltesche, versenken Twin Towers an Meeresgestaden oder nehmen den Kampf mit Drachen und anderen Kreaturen auf. Und was sie erleben und erträumen, ergibt wieder Bilder für den Animatographen, der in den letzten Monaten eine Weltreise angetreten hat: nach Island, dann nach Neuhardenberg in Ostdeutschland, schließlich nach Lüderitz in Namibia, ehemals Deutsch-Südwestafrika, wo – DER STANDARD war vor Ort – die Drehscheibe von schwarzen Bewohnern der Township „Area 7“ wie ein kultischer Spielplatz begrüßt wurde. Weitere Stationen in Nepal und Brasilien sind angedacht. Galeristen und Sammler reißen sich um die Kunstobjekte, die dabei entstehen.
An dieser Schnittstelle zwischen Theater, Kino und bildender Kunst wird sich ab Jänner 2006 auch das Wiener Burgtheater auf- und entladen, wenn Christoph Schlingensiefs „Matthäusexpedition“ Area 7 erstmals vorgestellt wird. Gleich fünf Animatographen sollen sich da auf der Bühne und im weit gehend frei geräumten Parkett drehen – darunter auch jener aus Namibia, rund um den Schlingensief im Oktober seinen ersten Kinofilm seit acht Jahren, The African Twin Towers drehte. Ursprünglich sollte die Großaktion an der Burg Sadochrist Matthäus heißen, Schlingensief befasste sich vor wenigen Monaten noch eingehend mit Johann Sebastian Bach. Doch auf den Reisewegen des rastlosen Künstlers ergeben sich immer neue Konstellationen, Themen und Motive verschwinden, werden wie Bilder billiger Digitalkameras plötzlich verschluckt, um plötzlich in neuer Gestalt wieder aufzutauchen.
Verzerrte Vorlagen
So hat Elfriede Jelinek wieder einen Text für Schlingensief geschrieben, nachdem sie über seine Adaption von Bambiland (seiner ersten Arbeit an der Burg, 2003) mehr als beglückt war. Parsifal (Lass o Welt o Schreck lass nach) diente schon bei den Dreharbeiten in Afrika als eine von mehreren Textgrundlagen. Wie immer bei Schlingensief besteht durchaus die Chance, dass man diese Vorlagen später kaum wiedererkennt.
Ebenfalls an die Burg kommen, quasi als „Debütanten“, die deutsche Schauspielerin und ehemalige Fassbinder-Heldin Irm Hermann und der junge österreichische Kinostar Robert Stadlober (Crazy).
Beide hatten ebenso am Dreh in Namibia mitgewirkt wie die US-Punkrockmusikerin Patti Smith (Horses), die es auf denkbar erratischen Wegen ins „Ensemble“ verschlagen hat: Für die Zeit hatte sie im vergangenen Sommer eine Reportage über den Bayreuther Parsifal geschrieben und war derart fasziniert, dass sie Schlingensief versprach, mit ihm – lediglich ausgestattet mit einem schwarzen löchrigen Mantel und ihrer Klarinette – nach Lüderitz zu reisen. Woraus sich jetzt wieder ein Engagement an die Burg ergab. Zumindest bei den Eröffnungsvorstellungen von Area 7 wird Smith dabei sein, wie und in welcher Funktion, das weiß man – wie immer bei Schlingensief – (noch) nicht.
Nur eines ist jetzt schon klar: Es wird praktisch das ganze Burgtheater „Area 7“ sein – der Publikumsraum ebenso wie die gesamte Bühne, die sich die Besucher quasi selbst ergehen, erschließen und erobern können.
Wie sagte Christoph Schlingensief am Sonntag im Rahmen der RadioKulturhaus-Matinee Zeitgenossen im Gespräch: „Da haben wir die gigantisch große Drehbühne der Burg. Darauf ist das Gehirn, da gehen Sie als Zuschauer rein. Sie werden geführt, es gibt organisierte Führungen, während vorne auch ein bisschen Theater – mit und ohne Joseph Beuys – gespielt wird, und dann gehen Sie in das Labyrinth und sehen Bilder aus Island, aus Afrika, Sie sehen die genetische Verwandtschaft zwischen Odin und Wotan, Sie sehen, dass das eine Person ist. Sie sehen die genetische Verwandtschaft zwischen Jesus und Mohammed.“
Droht jetzt eine gewaltige Konfusion? Glaubt man Schlingensief, so arbeitet er in rasenden Rundumbewegungen eher an einem „mystischen Abgrund“: „Theater wird wieder eine Passionsgeschichte. Hier wird etwas aufgebaut, dort wird etwas stehen gelassen – dann gibt es eine Halbwertszeit, eine Viertelzeit, und dann wird es wieder abgebaut. Was ein Arbeitsplatz war, ist heute schon ein mystischer Abgrund. Den kennt wohl jeder Arbeitslose.“
Sonderbeitrag, Der Standard (gleiche Ausgabe)
„Riesenfehler“ als Produktivkraft
Am Donnerstagabend in „Zeitgenossen im Gespräch“ auf Ö1:
Schlingensief über …
… Inspiration für den Animatographen: „Also man muss vielleicht so anfangen – irgendwann habe ich festgestellt, dass, wenn ich die Tageszeitung morgens am Frühstückstisch lese, und ich lese einen Artikel, dann will der wohl etwas bedeuten. Da habe ich einmal durch Zufall beim Lesen mit der Zeitung im Kreis gedreht, und da hat sich die Bedeutung des Artikels geändert. Er hat eine andere Aussage gehabt. Ich kann bis jetzt nicht genau erklären, warum, aber es ist so. Es geht da natürlich um Monopole der Betrachtung. Das Monopol der Zentralperspektive würde ich das nennen. Ich sitz da unten und ihr schreibt oder spielt da vorne. Ich bin aber lieber vorne und hinten, oben und unten zugleich.“
… Astronauten: „Kürzlich habe ich Ernst Messerschmidt kennen gelernt, diesen deutschen Astronauten. Der ist ins All raufgeflogen, und als er oben war, machte er am Morgen die Augen auf, und alles stand auf dem Kopf. Er war geschockt und hat runtertelefoniert zur Bodenstation. Da schrie ein Wissenschaftler: ‚Messerschmidt, Sie gehören zu den fünf Prozent der Bevölkerung, die dieses Problem haben!‘ Wenn ein Baby auf die Welt kommt, dann macht es die Augen auf, und in dem Moment wird das Gehör geeicht, und dann weiß es, dass da, wo die Füße sind, wohl unten ist. Diese Eichung ist bei ihm umgeklappt. Und dann rief nochmal ein Wissenschaftler da oben an und sagte: ‚Vergessen Sie alles, was wir mit Ihnen vorhatten! Sie sind ein Riesenfehler im System gerade, aber das ist die größte Produktivkraft, die wir uns vorstellen können. Machen Sie alles, was Sie können, hören Sie Musik, putzen Sie sich die Zähne, laufen Sie an der Wand rum, und dann schildern Sie, was passiert!‘
Es sind genau diese fünf Prozent, auf die ich letzten Endes auch vertraue: dass exakt da Dinge in Bewegung kommen, wo Indifferenzen passieren. Dass sich eine Tür öffnet, die mir eine Dimension zeigt, die ich mal in mir hatte und die ich verlernen musste, weil das System darauf bestanden hat, dass man eben ‚weiß‘: Da unten, da sind die Füße.“
… Bayreuth und die Burg: „Du kommst da rein, du merkst eine Aufladung, siehst eine Ahnengalerie und denkst: Was hast du hier zu suchen? Aber so geht’s mir auch, wenn ich bei Aldi einkaufen gehe. Was habe ich hier zu suchen? Was finde ich da unten im Regal? Das hört sich jetzt wieder für einige Leute wie Blödsinn an, aber es ist ein Grundprinzip des Lebens, einen Raum zu betreten, und zu kapieren: Der Raum überprüft mich, und nicht ich den Raum.“
… Elfriede Jelinek: „Sie schreibt wohl aus dem gleichen Grund, wie ich Bilder produziere: Nicht unbedingt, weil ich sage, ich will jetzt das und das ausdrücken, darum schreibe ich das jetzt mal runter, sondern es kommt halt, und es passiert tatsächlich was. Das ist mir ganz wichtig: Die Schleusen müssen offen gehalten werden.