«Via Intolleranza II» in Brüssel: Was aus Luigi Nonos hochmoderner Ernsthaftigkeit alles werden kann, wenn Christoph Schlingensief sie mit seinem Leben, seinen Projekten, mit Kolonialismus und Kritik durchkreuzt
VON DIEDRICH DIEDERICHSEN
Ganz am Anfang, als Christoph Schlingensiefs «Via Intolleranza II» gerade ein bisschen auf Touren gekommen ist, wird auf die «verlogenen Texte des Herrn Nono» eingehackt. Nur kurz. Dann erfahren wir nicht mehr viel über Luigi Nonos «Intolleranza 1960», das in manchen Ankündigungen noch von Schlingensief und seinem rund um das Operndorf zu Ougadougou und in anderen Zentren der Schlingensiefschen Einflusssphäre ge-casteten Ensemble inszeniert werden sollte. Jetzt liefert das 1961 uraufgeführte Stück nur noch den Titel sowie ein bisschen Chormusik, die sich kreativ mit allen möglichen anderen Klangquellen mischt und nur sehr kurz allein bleiben darf. Vielleicht aber kann gerade ein so besonders flach gehaltener Bezug, der meistens nicht einmal latent im bunten Bühnentreiben spürbar ist, mehr zur Konsistenz des jüngsten Überfalls aus dem Schlingensief-Camp beitragen als die darin auch auftauchenden direkten Ansprachen an die «perversen Europäer». Mit dem Kompliment «pervers» haben die Gemeinten natürlich eh kein Problem, erst recht nicht in Brüssel, wo die Show ihre Premiere feierte.
— Nonos Radikalität
Einen Flüchtling, in anonymer Fremde als Bergarbeiter verdingt, zieht es zurück in die repressive Heimat. Er landet in der universalen Demonstration von 1960 gegen zugleich «discrimination» wie «la sale guerre» und ruft «Morte al fascismo!» Er wird verhaftet, gefoltert. Sartre persönlich ist mit O-Stimme empört. Der Kampf geht weiter. «Das Verlangen nach meiner Heimat wandelt sich in den Wunsch nach Freiheit.» Im zweiten Teil wird die Geschichte auf eine höhere Abstraktionsebene befördert: Die Gegenwart besteht aus absurder Bürokratie und dem leeren Gelaber der Kulturindustrie. Doch der Flüchtling hat eine Gefährtin gefunden. Bilder der großen politischen Verbrechen des Jahrhunderts plagen das Paar, auf dem Land gerät es in eine Naturkatastrophe (Überflutung der Po-Ebene), die einen ökokriminellen Hintergrund hat. Alles geht unter, ein Brecht-Gedicht spendet trockenen Trost.
Das wäre in etwa der Plot von Luigi Nonos auf einer Idee von Angelo Maria Ripellino basierender «Intolleranza 1960», einer «szenischen Aktion», in früheren deutschen Fassungen auch nur «Handlung» genannt, aber auch unter «Oper» geführt. In ihrer Zeit war diese Arbeit in jeder Hinsicht ein Aus- und Durchbruch. Der strenge Darmstädter Hochmodernismus der Mittfünfziger Jahre, von manchen seiner Schüler nun als edlere Form der Geschichtsverdrängung erkannt und kritisiert, wird bei «Intolleranza 1960» in alle möglichen Richtungen geöffnet, inklusive heutzutage ziemlich unerträglich illustrativer Stellen, wenn etwa Folter im Text erwähnt und musikalisch durch plötzliche Lautstärke- und Tonhöhe-Steigerungen anschaulich gemacht werden soll.
Chöre der Gefolterten, der Gefangenen, der Algerier, eine auf symptomatische Szenen zugespitzte, sprunghafte Handlungsführung, jede Menge literarische Zitate, Gegenwartspolitik (Algerien-Krieg, US-Rassismus, Flutkatastrophen in Italien) bilden ein teilweise bis heute an Opernhäusern schwer durchsetzbares Gemisch aus politischer und künstlerischer Radikalität im Moment ihres Bruchs mit ihren bereits als radikal empfundenen Lehrmeistern.
— Meister im Aus-dem-Fenster-Lehnen
Nicht zuletzt die Ersetzung des proletarischen Subjekts der Geschichte durch einen ideellen Gesamtunterdrückten ist kühn. Zum einen ist dies ein Vorgriff auf das Beste von 68: die Transformation eines im Kalten Krieg zur Staatsdoktrin gewordenen Marxismus zu einer Theorie aktueller und erstmals globaler Kämpfe, von Antikolonialismus bis zu früher Ökologie; zum andern aber auch eine Vorwegnahme jener darauffolgenden Zeiten, in denen so um 1980 nach und nach identifikatorische Betroffenheit die Politisierung ersetzen sollte. Pathos, Kitsch, Kühnheit, Trockenheit – zwischen diesen Polen ist aber auch die Ästhetik des ungeschützten Aus-dem-Fenster-Lehnens von Christoph Schlingensief gespannt. Wie Nonos Werk will sie eben auch Vorwegnahme sein, ohne sich entscheiden zu können zwischen Apokalypse und Revolution, oder auch zwischen individueller Katastrophe und Wunscherfüllung. Als Modell gibt dieses Stück, das eine neue politische Idee mit einer neuen Theaterform in einer Bewegung erfinden wollte, womöglich einen besseren Ausgangspunkt für Schlingensief als sein auch hier wieder kurz aufjaulender Lieblingskomponist Wagner. Gesamtkunstwerk, knapp ein Jahrhundert später.
Nach einem knochentrockenen Beginn mit Volkshochschul-Bühnenbild und von Brigitte Cuvelier und später Schlingensief selbst launig am Stehpult vorgetragenen Lamenti über die Schwierigkeiten dieser Produktion, zwischen wegen Aschewolke festsitzenden Bürgern Burkina Fasos und einem erkrankten Chefdramaturgen Hegemann, der vom Wirbel über den Debütroman seiner Tochter absorbiert gewesen sei, übernehmen in verschiedenen Wellen andere Akteure die Bühne. Berliner Musiker, die ein bisschen Nono vom Tape mit seltsamen Radioempfängern zum Klingen bringen und später amtlich jammen; ein circa zwölfjähriges Supertalent aus Burkina Faso, das abwechselnd als Kind und als Erwachsener, als Täter und als Opfer Handlungsstränge aufknüpft und verwirbelt, ganz kurz ist er auch der Flüchtling von Nono; ein Rapper taucht auf, dann ein zorniger Intellektueller; eine Frau, die als die Björk Burkina Fasos angekündigt wird; sie hebt an zu singen und kriegt vor allem Adorno-Sätze raus.
Derweil kompliziert sich sukzessive das Bühnenbild, bis jene mittlerweile typische Visualität entsteht, die Schlingensief seit dem Bayreuther «Parsifal» mit einem besonderen Höhepunkt bei «Mea Culpa» in Zusammenarbeit mit Voxi Bärenklau immer weiter entwickelt hat: Vielfältige Projektionen auf unordentlich verlaufende Wände und Textilien, ein Dorf-artiges Bühnenbild mit labyrinthischen Wegen zwischen Tischen, Bandstand, Kabinen und Bauten; Stacheldraht und die Projektion von «L’inferno» (1911) von Giuseppe de Liguoro, den Schlingensief schon bei der letzten Berlinale im HAU gezeigt hat, markieren die Grenze des scheinbar ständig expandierenden Geschehens.
— Die Geschichte des Kolonialismus
Denn auch wenn immer neue Handlungszweige erkennbar werden – Weitergesponnenes aus früheren Schlingensief-Projekten, Geschichten von seiner Krankheit und aus dem Dorf-, so dominiert doch ein großes Thema mit fast schon so etwas wie Konsistenz das Gewimmel und die Vielstimmigkeit. In immer neuen Einzelbeiträgen werden Motive aus der Geschichte des Kolonialismus und des europäischen Rassismus durchdekliniert: von den Menschenschauen im Hamburger Hagenbecks Tierpark über die Exzesse und die Normalität des wissenschaftlichen Rassismus des 19. Jahrhunderts bis zur postkolonialen Weltordnung und ihren Regeln für die Repräsentation von Afrika und den Afrikanern.
Zwei Dinge sind daran besonders gelungen: Die in Französisch, Deutsch und Moore (der von der Hälfte der Bevölkerung in Burkina Faso gesprochenen Sprache) gehaltenen Dia- und Monologe addieren sich vor der synkretistischen Soundkulisse abstrakter elektronischer Beats aus zeitgenössischen globalen Tanzmusiken zu einem Sog aus Wissen und Absichten, das die Fragilität und Prekarität der einzelnen Auftritte übersteigt. Natürlich sind die meisten hier erwähnten kolonialistischen Verbrechen zu bekannt, um durch bloße Erwähnung erneut zu erschüttern, und zu gewaltig, um die bloße Erwähnung nicht frivol wirken zu lassen.
Der zornige Intellektuelle kommt bei so einem kurzen Auftritt – offensichtlich beabsichtigt – zu sehr als Figur über die Bühne, um dem Gegenstand seines Zorns gerecht werden zu können. Und der zentrale Zirkusdirektor und Guru-Performer wird auch in keiner der beiden Rollen seinen ebenso hochgesteckten wie nie klar formulierten Zielen gerecht, dies alles als Beitrag auf dem Weg zu seinem afrikanischen Operndorf plausibel zu machen. Doch die dichte, prasselnde Folge nimmt diesen Einlagen den Status letzter Worte, im Nebeneinander durcheinander laufender Performer geriert sich niemand als frontaler Prophet, beziehungsweise auch das nur als Pose. Was bleibt, ist ein Substrat, das aus den postkolonialen Konkreta auf ähnliche Weise eine ideelle Gesamtgestalt ab zuleiten versucht wie Nono mit seinem Flüchtling aus der Gemengelage der frühen 60er.
— Der Intellektuelle als Schauspieler
Dazu kommt als zweites ein ungewöhnlicher Humor. In einer Rezension las ich, dass man nie wüsste, wer hier wann was eigentlich ernst meint. Das ist in der Tat nicht klar, und das ist gut so. Der zornige Intellektuelle ist ein Schauspieler, der zugleich aufrichtig die guten Gründe vorträgt, aufgrund derer ein afrikanischer Intellektueller zornig sein kann, wie er simultan die Figur des zornigen Schwarzen parodiert, die eine bestimmte Intelligentsia des globalen Nordens seit Fanon so liebt – eine Liebe, die schließlich in dem Projekt, das wir gerade bestaunen, womöglich auch eine Rolle spielt. Drittens aber setzt er sich als authentische Gegenwartsperson zu den in seinem Text vorgetragenen guten Gründen ebenso ins Verhältnis wie zu dem Problem, hier womöglich für den Lebenstraum eines Oberhauseners instrumentalisiert zu werden. Durchgehend wird mit einen Schema gearbeitet, bei dem eine authentische Person jenseits ihrer Bühnenfunktion auftritt, sodann eine Rolle spielt, die ihrerseits zu einem Stereotyp sich verhält, das wiederum auf einen ideologischen Kontext verweist.
Zwischen diesen Stationen gibt es aber keine klaren Übergänge, die dieses Prinzip in blasser Didaktik versacken ließen. Nichts von dieser Komplexität wird in diesem Fall – oder den vielen ähnlich gelagerten anderen Fällen dieser rasanten und kurzweiligen Aufführung – ausbuchstabiert, alles elegant und treffsicher in den Performances gespielt und getanzt. Eine performte Selbstreflexivität wurde hier entwickelt, die eben nie in jene bekannte Ironie abgleitet, die die primären Anliegen und die Möglichkeit, sie vorzutragen, grundsätzlich nur noch komisch und damit ungültig findet. Gerade weil das Projekt durch seine Asymmetrien, seine vielfältigen Ausbeutungsbeziehungen, seine Projektionen auf eine ganz andere Welt so über die Maßen fragwürdig ist, gewinnt es hier eine Dynamik, die sich vor allem als halsbrecherischer Humor äußert. Alle Beteiligten machen hier einen Gewinn aus den wirbelnden Widersprüchen.
Damit wäre man fast bei der Umkehrung der Nono-Konstellation angelangt, wo nur die Notbremse einer heilig-humanistischen Betroffenheits-Identifikation der neuen Komplexität einer erstmals geahnten politischen Globalität gerecht werden konnte. Über deren Naivität durfte sich dann später die postmoderne Ironie beömmeln. Hier wird in der selbstreflexiven, Komplexität zulassenden Heiterkeit gerade eine Ernsthaftigkeit erkennbar, die nicht mehr naiv ist, auch wenn manch weltbeglückendes Ziel der Arbeit auf dem Papier kindliche Züge trägt.
Fast ein Dementi dieses Denk- und Vortragsstils war es dann allerdings, als der Chef am Schluss sehr schlicht und ein bisschen gönnerhaft erklärte, nun würde das Operndorf an seine Bewohner übergeben, und wir Europäer müssten anfangen, von denen, den Afrikanern, zu lernen. Gerade das Arbeiten mit so einer klar gesetzten Dichotomie wie «wir und die» hatte «Via Intolleranza II» vorher an eine vergangene Welt verwiesen.
Quelle: THEATER HEUTE #7, Juli 2010
Fotos: Friedemann Simon