Seit die Deutschen den Regisseur Christoph Schlingensief kennen, wissen sie, was Radikalität ist. Christoph Schlingensief im Gespräch mit GQ Gentlemen’s Quarterly
Obwohl die wenigsten seine Stücke kennen, beschäftigt er sie mit seinen fernsehgerechten Provokationen. Und mit seinem Lebensdrama: Er ist schwer krank. Und dabei schwer lebendig. Kein Requiem
Ein silbernes Kruzifix, Dutzende Türmchen von Medikamentenschachteln, eine Zeichnung, auf der ein Hahn einen Hasen rammelt, eine afrikanische Hasenmaske, ein Kissen auf dem Boden – die Wohnung von Christoph Schlingensief, 49, in Berlin. Auf das Kissen setzt er sich, schwer atmend. Bekanntermaßen hat Schlingensief Krebs. Und nur noch einen Lungenflügel. Was er außerdem nicht hat: Zeit zu sterben. Er baut in Burkina Faso ein Operndorf mit Festspielhaus, gerade tourt er mit seiner Afrika-Oper „Via Intolleranza II“ durch Europa. Brüssel, Hamburg, München, Wien. Er selbst dabei tanzend, referierend, schreiend auf der Bühne, demnächst eine Oper in Berlin, dann die Gestaltung des deutschen Pavillons auf der Biennale in Venedig. Und das alles wie immer: umstritten. 2014 folgt Wagners „Tristan und Isolde“. „2014“, sagt er und guckt in die Luft. „Das ist noch verdammt lang hin.“
GQ: Ein Gesprächstermin mit Ihnen wird unter den Interviewern der Republik hoch gehandelt, wie eine Audienz. Wie fühlt man sich angesichts der eigenen messianischen Wirkung?
Christoph Schlingensief: Mir fehlt die Zeit, mich damit auseinanderzusetzen. Alles ist wie in einem Sumpf, man bekommt Luft, man strampelt, dann zieht es einen wieder nach unten. Ich brauche meine ganze Zeit, um an den Projekten zu arbeiten. Dazwischen die Behandlungen, da knallt einem manchmal alles ordentlich durcheinander. Aber es gehört zu meiner Arbeit, dass ich mich endlich über sie äußere. Ich suche Verbündete, das habe ich immer getan. Deshalb sitzen wir jetzt auch hier. Daher meine Lust am Kommunizieren. Früher gehörte ich zu denen, die am Morgen nach den Volksbühne-Premieren an der Tankstelle auf die Zeitungen warteten, um als Erster die Kritiken zu lesen. Das ist vorbei, das geht seit meiner Krankheit nicht mehr. Ich habe einen Google-News-Alarm, aber ich kann nicht mehr alles lesen. Ich führe eben einen Kampf, ich bin einer, mit dem es eigentlich schon vorbei war. Und plötzlich dauert es dann länger, als alle und vor allem man selbst gedacht hätten.
GQ: Was bedeutet das für Ihre tägliche Arbeit, für Ihr Leben?
Christoph Schlingensief: Dass ich alles darauf überprüfe, wie effizient es ist. Ich gehe nicht mehr essen, um mit Leuten in die Nacht hineinzuquatschen. Essen gehen ist kein Hobby mehr für mich, also lasse ich es. Bei den Proben trete ich mich nicht mehr mit den Schauspielern, um erst einmal vier Stunden den Alkohol von der Vornacht aus der Kantine abzubauen. Ich möchte an den Dingen arbeiten, ich möchte, dass der Text gekonnt wird, dass die Zeit, die wir haben, effizient genutzt wird. Auch jetzt mit Ihnen.
GQ: Als wir uns zum ersten Mal 1997 in Hamburg zu einem Interview trafen, war Ihnen so was egal. Sie sperrten mich in einen Käfig, der Termin wich der Performance.
Christoph Schlingensief: Das waren Sie damals? Wie lustig. Ich erinnere mich daran, aber nicht, dass Sie das waren. Durch die Chemotherapie ist manches verwischt worden. Vor allem die Erinnerung an Personen.
GQ: Wäre eine solche spontane Aktion heute denkbar, oder verhindert die Krankheit solchen Aktionismus?
Christoph Schlingensief: Sie wird anders bewertet. Ich habe immer in meinen Stücken selbst mitgespielt und mich als der, der ich bin, thematisiert. Doch plötzlich finden das alle so rührend und interessant, ich habe schon gesagt, wenn mich noch einer umarmt und mir zuflüstert, wie sehr ihn das berührt, dass ich mit meinem Krebs das alles auf mich nehme, dann hau ich ihm eine rein. Es ist so, als ob man einen Flugzeugabsturz beobachtet. Dann sind alle ganz furchtbar berührt, weil sie nicht dringesessen haben. Ich sitze aber im Flugzeug. Für mich fühlt sich das anders an. Der Schock so einer Krankheit sitzt tief. Das verändert einen. Bei Premierenfeiern bleibt eben nun meine Frau. Ich gehe früher, denn ich bekomme manchmal weniger Luft, und ich werde ungeduldiger. Ich denke mir dann: Mein Gott, versau den anderen doch nicht die Stimmung. Ich kenne das von meinem Vater, der uns mit seiner Depression genervt hat.
GQ: Ihre Premiere einer Braunfels-Oper vor zwei Jahren erlebten Sie am Handy von der Intensivstation aus, zum Schlussapplaus hielt man dann das Telefon in Richtung Publikum — es war wie ein katholisches Hochamt. Das Handy als Monstranz. Wie fühlt sich die Rückkehr ins reale Leben an?
Christoph Schlingensief: Ich habe das damals kaum mitbekommen. Ich hätte es jedenfalls nicht besser inszenieren können. Leider war da nicht mehr als ein Krachen am Telefon, und ich habe aufgelegt.
GQ: Niemand hätte damals erwartet, Sie noch mal über eine Bühne springen zu sehen. Oder mit Ihnen ein Interview wie dieses zu führen.
Christoph Schlingensief: Auch ich nicht. Aber inzwischen ist es so, dass mir der Arzt gesagt hat, er werde mir helfen, sterben zu können. Ja gut, habe ich gesagt, wie nett von Ihnen. Dann erst verstand ich, was er meinte: Ich würde nämlich irgendwann mal sterben, wie die anderen, aber nicht an diesem Krebs. Lange Zeit haben mir die Ärzte eingebläut, dass ich nie mehr würde arbeiten können. Ich versuchte dauernd zu argumentieren, wie es doch gehen könnte, aber sie blockten alles ab. Irgendwann kam ich darauf, dass das aus ihrer Sicht richtig gewesen ist. Denn sie hielten mich für einen Opernsänger. Heute habe ich durch Training eine bessere Atmung als mancher 40-Jährige.
GQ: Wie war das Gefühl, zum ersten Mal wieder zu arbeiten?
Christoph Schlingensief: Erst mal hart. Meine erste Arbeit am Gorki war sogar sehr hart, ich habe immer nur eine Stunde arbeiten können, dann musste ich erst mal kotzen gehen.
GQ: Sie haben in den letzten Monaten so viel gearbeitet, wie andere in zehn Jahren nicht. Warum die Hektik, wenn Sie eigentlich noch Zeit haben?
Christoph Schlingensief: Als ich da auf dem Krankenbett lag, riefen viele an und wollten mir Mut zusprechen. Das war auch wichtig, ich bin da teilweise zur Tür gekrochen, um Luc Bondy oder Zadek mit ihren Chemo-Tipps und Aufmunterungs- Pornozeichnungen reinzulassen. Und es kamen viele Angebote. Es hieß: Christoph, wenn das wieder wird, wollen wir mit dir dieses und jenes machen. Ich war froh darüber. Und als dann auch noch die Klauseln, die von Nichterbringung der Regieleistung handelten, gestrichen wurden, merkte ich: Die meinen das ernst. Ich hab damals aus einer gewissen Zuversicht heraus alles angenommen. Und jetzt arbeite ich das ab. Nach und nach. Mein Arzt sagt: Solang es positiver Stress ist, ist es gut.
GQ: Sie thematisieren Ihre Krankheit in jeder Inszenierung. Können Sie noch etwas tun, ohne dass der Krebs dabei eine Rolle spielt?
Christoph Schlingensief: Wie Sie sehen, ist es schwer, Sie reden auch die ganze Zeit davon. Der Krebs schwingt immer mit. Er ist eben da. Es ist chronisch. Der größte Scheiß: Er wird immer bleiben. Und reinzufahren in diese Röhre und sich dauernd erklären lassen müssen, da und da und da ist er überall, das ist nicht toll. Ich sage halt, ich bin der beste Krebskranke überhaupt. Ich habe gefühlte 17 Krebsbücher geschrieben, bin vom Fachmagazin „Theater“ zum besten Krebsregisseur des Jahres gewählt worden und habe obendrein den Tänzer engagiert, der den Krebs am allerbesten von allen tanzen kann.
GQ: Wie viel Voyeurismus spüren Sie?
Christoph Schlingensief: Ich glaube, die Leute, die sich daran weiden wollen, sind bei Live-Operationen auf RTL besser bedient. Ich merke, dass viele kommen oder mein Buch lesen, weil sie hier Antworten erwarten, die ihnen ihr krebskranker Vater einfach nicht gegeben hat. Am schlimmsten sind aber jene, die sagen: Lasst uns mit eurem Krebs in Ruhe. Die haben die Relationen einfach verpasst mit ihren 8 000 Büchern über Porsches und 12 000 Bänden, die erklären, wie man argentinisches Rinderfilet zubereitet.
GQ: Haben Sie durch die Erfahrung mit der Krankheit etwas über den Tod erfahren?
Christoph Schlingensief: Natürlich nicht. Ich habe nur eine Ahnung, die mich entlastet. Dass meine Energie bleibt, die mich hier ausmacht. Auch dann, wenn meine Hülle einmal nicht mehr ist. Aus den Erfahrungen, auch mit den afrikanischen Künstlern, denke ich mir: Wir sollten uns nicht mehr so allein betrachten, wir müssen uns im Kontext unserer Ahnen sehen. Sie machen uns aus. Nicht im Sinne von „Guck, der hat die Ohren von Mama“, sondern wirklich im Sinne der Ahnen. Das kann auch ein Nazivater sein, das macht nichts. Auch er ist daran beteiligt, dass wir so sind, wie wir sind. Es ist jedenfalls ein Aberglaube, dass wir nur für uns stehen, dass wir unabhängige Individuen sein könnten.
GQ: Das hört sich nun doch nach Erkenntnis an.
Christoph Schlingensief: Wir wollen dauernd versichert sein, wir hätten gern eine Police für am besten alles. Ich spiele hier nicht den Freud, aber ich glaube, dass dieser Urschrei, wenn wir vom Mutterbauch in die Unsicherheit der Welt geworfen werden, uns schrecklich traumatisiert. Danach wollen wir alles permanent absichern: Handyversicherung, Lebensversicherung, Handtaschenversicherung. Es hilft aber nichts. Die Leute, die glauben, alles im Griff zu haben, machen mich wahnsinnig. Da mag ich lieber die, die besoffen durch den Park laufen und „Deutschland“ brüllen, mit denen kann ich mehr anfangen.
Wir müssen uns mehr im Kontext unserer Ahnen sehen. Es ist ein Aberglaube, dass wir davon unabhängige Individuen sind
(Christoph Schlingensief)
GQ: Ist es Ihnen unangenehm, wenn wir weiter über das Leben und den Tod reden?
Christoph Schlingensief: Nein.
GQ: Sie haben gesagt, Sie erwarten im Jenseits nicht Papa mit Engeln. Wie überrascht wären Sie, wenn es doch so ist, und vielleicht Peter Zadek und Heiner Müller winkend an der Pforte stehen?
Christoph Schlingensief: Es wäre schon furchtbar. Ich habe jetzt eine Vorstellung vom Sterben, nicht vom Tod. Davon, wie es ist, wenn man da herumliegt und nur noch hechelt. Ich kann mir vorstellen, dass es eine Erlösung ist, wenn man das hinter sich hat und loslassen kann. Dann geht man endlich, und Zadek steht da? Ich weiß nicht. Dann ist da ja der ganze Rattenschwanz – seine Mitarbeiter, seine Eltern, man weiß nicht, wen man da kennenlernen müsste.
GQ: Man würde vielleicht die wahren Seelen der Leute kennenlernen?
Christoph Schlingensief: Ich habe es immer unangenehm gefunden, meine Mitarbeiter zu Hause zu besuchen, weil ich nie wissen wollte, wer unterm Sofa seine Unterhosen liegen hat. Wieso sollte ich die Seelen der Leute kennenlernen wollen? Ich würde nur einen gern kennenlernen, der da ist.
GQ: Wen?
Christoph Schlingensief: Buñuel.
GQ: Von allen Milliarden Verstorbenen, würden Sie nur Luis Buñuel treffen wollen?
Christoph Schlingensief: Alain Resnais wäre auch toll. Aber der lebt noch. Louise Bourgeois fände ich großartig, die ist ganz neu da. Ich bin mir bloß nicht sicher, ob die mich aushalten würden.
GQ: Erinnern Sie sich noch des Moments, als Sie als Kind feststellten, dass der Tod alle, auch einen selbst betrifft?
Christoph Schlingensief: Wir waren als Kinder auf Urlaub am Chiemsee, wo die Mutter eines Spielkameraden einen Wundstarrkrampf bekam. Da wurde mir bewusst, als mir meine eigene Mutter erklärte, was da passiert ist, dass uns allen etwas droht. Konkret wurde es erst später, als meine Mutter unserem Dackel Ilka „Sitz!“ zurief. Und das brave Tier folgte, obwohl ein Mercedes heranbrauste. Tot. Und ich erinnere mich noch sehr genau an das Wimmern der älteren Geschwister, als sie aus dem Krankenhaus von der Großmutter zurückkamen, da wussten wir, da ist etwas passiert.
GQ: Wann in Ihrem Leben wurden Sie zum ersten Mal mit Gedanken an die eigene Endlichkeit konfrontiert?
Christoph Schlingensief: Das kam erst, als ich Abitur machte, 1978, und ich plötzlich Bauchschmerzen bekam. Ich hatte Fischbrötchen gegessen, und so dachten alle, es wäre eine Lebensmittelvergiftung. Dabei war es der Blinddarm, und als man das bemerkte, hatte ich bereits Darmverschluss. Ich lag direkt neben der Intensivstation und sah, was für ein Durchlauf an Leben und Sterben da herrschte, ich hörte, wie man einer Frau erklärte, dass die Narben ihrer Mutter nur noch zusammengetackert wären, weil sich das Zunähen nicht mehr lohnen würde. Da war mir einiges klar. Ich sollte noch mal in den OP, weil ich nur kotzte, aber sich trotz Rizinusöl und aller möglichen Mittel nichts rührte. Das machte mich so fertig in dem Moment, dass ich wild auf meinen Bauch eindrosch. Das Nächste, an das ich mich erinnere, war der alte Mann nebenan, der seine Decke hochzog. Aber schon spritzte eine Fontäne Scheiße durchs Zimmer. Die Schwester rief: „Na, das ist ja super.“ Das war mein erster Kampf ums Überleben mit anderen Überlebenskämpfern.
GQ: Von Thomas Bernhard, der ohne seine Lungenkrankheit vermutlich nie Literat geworden wäre, stammt der Satz: „Verglichen mit dem Tod ist alles lächerlich.“ Hat er recht?
Christoph Schlingensief: Ich finde inzwischen diese künstlerische Todessehnsucht, die ich selbst mal hatte, lächerlich. Diese Melancholie. Diese pubertäre Haltung, zu sagen, na ja, dann bringe ich mich eben um. Ich will leben. Ich habe den Wunsch, leben zu wollen, erst spüren müssen. Vermutlich ist es eine Erlösung, wenn man krank ist, dann mal abtreten zu dürfen. Aber das ist nicht, schon gar nicht bei Bernhard, ein Aufruf zum Fatalismus, eher im Gegenteil. Es ist ein Hinweis, konkreter zu zweifeln. Und sich nicht mal über das Zweifeln sicher zu sein. Das ist ein wichtiger Teil meiner Arbeit. Man soll nie genau wissen, was auf der Bühne gespielt ist und was nicht. Man soll sich fragen, ob das noch Inszenierung ist oder bereits Eskalation. Ich hasse es an der konventionellen Oper, dass alles so erwartbar überinterpretiert ist. Das hat den künstlerischen Wert der Interpretation eines Gedichts im Deutschunterricht.
GQ: Dem Anspruch des Unerwartbaren werden Sie in Ihren Inszenierungen ja durchaus gerecht. Danach sehnt man sich manchmal nach einer Götz-Friedrich-Operninszenierung, in der Siegfried oder Kundry genau wissen, wo sie wann zu stehen haben.
Christoph Schlingensief: Hm. Es stimmt schon, dass da oft ein permanentes Durcheinander herrscht, aber es kristallisiert sich doch viel dabei heraus. Gerade Musik löst den Zuschauer aus seiner scheinbaren Selbstkontrolle – genau da liegt der Punkt, wo ich als Regisseur zupacke, das Misstrauen gegen sich selbst auszulösen. Gerade die Skepsis gegenüber diesem Leben hier ist das Schöne, das, was das Leben erträglich macht. Bernhard wusste das.
GQ: Sie neigen zu Ritualen. Nicht nur auf der Bühne. Als früherer Ministrant mögen Sie bekanntlich auch das Katholische, Sie haben schon vor der Erkrankung eine Church of Fear gegründet. In Burkina Faso wurden die Ahnen befragt, ob sie das Opernprojekt dort überhaupt unterstützen. Woher kommt Ihr Hang zum Hochamt?
Christoph Schlingensief: Wussten Sie, dass Weihrauch gegen Gehirntumor hilft? Ich muss mich wiederholen: Es geht um die Erkenntnis, dass der Raum mich überprüft und nicht umgekehrt. Wenn Sie zu Heiner Müllers Grab gehen und da rituell eine Zigarre rauchen und niederlegen – das machen ja viele –, dann, da bin ich mir sicher, bekommt er selbst das nicht mit. Aber das Universum tut es. Wenn ich diese totale Scheiße durchlebe und am Ende bin, dann denke ich, will das Universum sich anschauen, was ich nun mache. Ich kann zum Beispiel die Lage überhöhen. Ein Buch schreiben. Ein Stück. Es waren die wichtigsten Momente meines Krankseins, als ich dachte, jetzt will der Raum wissen, was ich damit mache.
GQ: Ist der Raum Gott?
Christoph Schlingensief:Wer auch immer.
GQ: Richard Wagner hat mit einer Ritualisierung des eigenen Werks früh an der eigenen Mythologisierung gearbeitet, hat dazu — wie übrigens auch Sie gerade — ein Opernhaus initiiert. Arbeiten Sie wie er am eigenen Nachruhm?
Christoph Schlingensief: Ja natürlich. Das macht jeder, man will doch, dass etwas bleibt, wenn man nicht mehr da ist. Aber das ist eine Illusion. Es bleibt nichts. Ich schaffe es ja nicht mal, lebend irgendetwas einzuhalten, was ich angekündigt habe. Dass ich mich selbst so stark in den Vordergrund stelle, ist kein bloßer Egotrip, sondern ermöglicht mir Bezüge herzustellen und zu verantworten, die es so sonst nicht gäbe. Gut, ich glaube schon latent, dass ich etwas zu sagen habe. Aber ich will einfach nicht einer dieser Künstler sein, die ein Bild malen, sich dann dahinter verstecken und die Kuratoren labern lassen. Man muss die Maler verstehen, sie haben vermutlich zu Recht Angst, sich als totale Dummköpfe zu outen, wenn sie etwas sagen würden. Aber das Risiko muss man eingehen, ich bin gern bereit zu scheitern. Aber man muss wenigstens etwas versucht haben. Ich muss irgendwas sagen, wenn ich sehe: Es läuft etwas falsch hier.
GQ: Aber was bewirken Sie schon? Ich habe beobachtet, wie selbst solche Luxusgeschöpfe aus der Maximilianstraße vergnüglich in der München-Premiere sitzen und lachen, während sie von Ihnen angegriffen und bloßgestellt werden.
Christoph Schlingensief: Die von der FDP haben es nicht so vergnüglich gefunden. Viele sagten, ich soll mal die Klappe halten, am Ende würden die an die Regierung kommen und mir zugesagte Gelder für das Afrikaprojekt streichen. Ich hätte nie gedacht, dass so was passieren kann. So banal böse kann nicht mal die Politik sein. Dann wurde Westerwelle Außenminister, und mir wurden 100.000 Euro gestrichen. Da war ich baff . Aber egal. Ich will ja gerade in Haftung genommen werden.
GQ: In Ihrer Operninszenierung „Intolleranza“ nehmen Sie die wohlmeinenden Entwicklungshelfer und Afrikaliebhaber deftig aufs Korn. Gleichzeitig bauen Sie ernsthaft in Burkina Faso ein Operndorf — wie passt das zusammen?
Christoph Schlingensief: Es ist mein eigentliches, mein wichtigstes Projekt. Leider ist es auch das, was mir am meisten Ärger bereitet. Man erwartet als Geldgeber hier in Europa, dass es so umgesetzt wird, als würde man noch mal ein Sony Center hinbauen. Ich möchte aber, dass es so gemacht wird, wie die es machen. Henning Mankell etwa oder Brigitte Henkel, die 100.000 Euro gespendet hat, haben die Auflage, sich nicht einmischen zu dürfen. Das ist toll. Mankell hat sogar selbst darauf bestanden. Ich will, dass das alles aus der Community heraus entsteht.
GQ 15. Juli 2010. Interview: David Baum