DIE DREIFACHE PASSION (BERLINER MORGENPOST)

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Welch eine Entdeckung: Walter Braunfels‘ Oper „Jeanne d’Arc – Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna“. In der aufregenden Inszenierung von Christoph Schlingensief wird das Werk in diesem November drei Mal aufgeführt.

Jeanne D'Arc (Deutsche Oper Berlin)

Heilige oder Terroristin, Wahnsinnige oder Hellsichtige, von Gott gesandt oder selbst ermächtigt? Die Jungfrau von Orléans, Jeanne d’Arc, das Mädchen Johanna aus dem lothringischen Dorf Domrémy, gibt Rätsel auf und fasziniert – bis in die Gegenwart. Bis heute widmen sich Kunst und Wissenschaft der Erforschung des Mythos dieser charismatischen Gestalt, die 1412 geboren, 1431 als Ketzerin verbrannt und 1920 heiliggesprochen wurde. Nicht nur die Befreiung Frankreichs von englischer Herrschaft im Hundertjährigen Krieg sicherte ihr einen Platz in der Geschichtsschreibung. Ihr militärischer Sieg galt den Franzosen zwar als Initiation für ein nationales Bewusstsein, aber erst ihr Märtyrertum wurde zu einem Fanal für die gesamte christliche Menschheit.

Als archetypische Heldin, die kindlich-naive Frau aus einem Provinzdorf, der es im blinden Vertrauen auf ihre göttliche Mission gelingt, zur kriegsentscheidenden Heerführerin zu avancieren, beschreibt ihre Geschichte ein über alle kulturellen Grenzen hinweg faszinierendes Muster mit märchenhaften Zügen: Eine einfache Frau, beinahe noch ein Kind, wird zur Trägerin göttlichen Willens und von Gott ermächtigt, politische Realität kraftvoll zu verändern. Ihr Glaube lässt sie Berge versetzen, für ihn geht sie in den Tod im Bewusstsein ihrer eigenen Passion, hin- und hergerissen von Hoffnung und Zweifeln, Kraft und Schwäche. Eine geheimnisvolle Anziehungskraft umgibt Johannas Geschichte, die offen ist für Vereinnahmungen und Deutungen aus unterschiedlichen ideologischen Perspektiven.

Der Komponist Walter Braunfels (1882-1954) teilte mit Alexander von Zemlinsky, Franz Schreker und vielen anderen Kollegen das Schicksal, von den Nationalsozialisten mit einem Aufführungsverbot belegt und somit als Künstler zum Verstummen gebracht worden zu sein. Als er darüber hinaus auch seines Amtes als Direktor der Staatlichen Hochschule für Musik in Köln enthoben wurde, zog Braunfels sich nach Überlingen am Bodensee zurück. Mit der Vita der Heiligen Johanna fand er, der sich nach Erlebnissen im 1. Weltkrieg vom Protestantismus zum Katholizismus gewandt hatte, einen Stoff, der ihm die Möglichkeit gab, sich als Komponist und Theatermacher in Klang und Bild zu artikulieren und die Verzweiflung an der eigenen Gegenwart zu formulieren.

Jeanne D'Arc (Deutsche Oper Berlin)

Vom Wunder wider alle Wahrscheinlichkeit, der Ermächtigung der Schwachen, der Manipulation der Massen, von Hoffnung auf und Zweifel an göttlicher Erlösung erzählt Braunfels in seiner expressiven, spätromantischen Tonsprache, in der sich Anklänge an den musikalischen Neoklassizismus genauso wie bis an die Grenze der Tonalität getriebene – diese aber nie überschreitende – chromatisierte Harmonien finden. In dieser so katholischen wie ketzerischen Oper thematisiert Braunfels Abgründe und Ausweglosigkeiten zwischen Gewissheitsstreben und Verzweiflung an der Wahrheit. Es gibt hier keine fromme Nachfolge Jesu, die das irdische Leiden verklärt und die christliche Erlösung feiert, sondern eine Passion der Ambiguität. Der unbefriedigte Drang nach Glaubens- und Heilsgewissheit, der den Katholizismus faszinierend macht, ist der rote Faden in diesem Spiel. Der bekennende Katholik Christoph Schlingensief hat diese Oper als polymorphes Hochamt inszeniert, zelebriert von den Mitgliedern einer Kunstsekte, in einem Ambiente, das die Grenzen zwischen Sakralraum und Bühne systematisch aufhebt.

Aus dem Jahrbuch der „Opernwelt“ 2010 von Gerhard R. Koch:

„Die in mancher Hinsicht gewichtigere Musiktheater-Arbeit (Christoph Schlingensiefs) fand 2008 an der Deutschen Oper Berlin statt: die posthume (szenische) Uraufführung von Walter Braunfels‘ ‚Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna‘ (Anm. der Redaktion: der Vergleich bezieht sich auf Schlingensiefs Bayreuther ‚Parsifal‘ und seine ‚Holländer‘-Inszenierung in Manaus). Komponist, Werk und Wiedergabe verwiesen unmissverständlich auf gleich drei Passionen: Braunfels überlebte in der ‚inneren Emigration‘ das Nazi-Reich, komponierte sein Hauptwerk 1938-42, ohne jegliche Hoffnung auf eine Aufführung. Orientiert hat er sich, in der Nachfolge von Dreyers unvergleichlichem Stummfilm, an den Prozessakten von 1431, eben der Passion der Jeanne d’Arc.

Jeanne D'Arc (Deutsche Oper Berlin)

Schlingensief war damals so geschwächt, dass er die Proben teilweise nur vom Krankenhaus koordinieren konnte. Gleichwohl wurde es eine überaus intensive Produktion: als ikonografisches Puzzle, filmisch surrealistisches Pandämonium voller Horror und Blasphemien – eine Summe von Freak-Ritualen, in einigen Aspekten sogar noch dringlicher als im ‚Parsifal‘, weil in den Schockwirkungen noch unberechenbarer. Braunfels‘ ‚Johanna‘ gewann so etwas von einem Schlingensief-Requiem zu Lebzeiten auf sich selbst. Aber die traditionelle Hierarchie Komponist-Werk-Inszenierung blieb trotz nicht weniger Grandguignol-Obsessionen gewahrt. Kunst und Leben blieben insofern getrennt.“

Termine: 30. Oktober, 3. und 11. November

www.deutscheoperberlin.de

Erschienen in der Berliner Morgenpost vom 28.10.2010