Braucht Afrika ein Operndorf? Für Christoph Schlingensief wurde die Idee zum letzten großen Lebenstraum. Jetzt nimmt das Dorf Gestalt an – zumindest ein Stück.
Ouagadougou (dpa) – Christoph Schlingensief hätte an dem Spektakel die größte Freude gehabt: Mehr als 100 afrikanische Kinder führen mit Trommelstöcken, Tiermasken und Wildkostümen einen mythisch anmutenden Tanz auf. In der Gluthitze der Mittagssonne von Burkina Faso sind ihre Gesichter schweißüberströmt, aber für mehr als eine Stunde sind sie voller Ernst und Begeisterung bei der Sache.
Sie feiern die Eröffnung der Schule in dem von Schlingensief geplanten Operndorf Afrika. Gut ein Jahr nach dem Tod des genialen Filme- und Theatermachers wird damit seine schier unglaubliche Idee ein Stück Wirklichkeit.
«Christoph ist heute leider nicht hier. Aber ich bin mir sicher, dass er jetzt irgendwo sitzt und zuguckt», sagt seine Witwe Aino Laberenz (30). Ihre Stimme ist fest, sie trägt den großen, schweren Ehering ihres Mannes an einer Kette um den Hals.
Rund 500 Menschen sind an diesem Samstag zur Eröffnung der Schule gekommen – Häuptlinge und Älteste aus der Gegend, viele Künstler, der Bürgermeister, aber auch der Kulturminister und die Bildungsministerin aus der 30 Kilometer entfernten Hauptstadt Quagadougou. Sie bringt die Zusage des Präsidenten mit, alles für eine gesicherte Zukunft des Operndorfs zu tun.
Während der Zeremonie kommen lautlos auch immer mehr Frauen in bunten Festtagsgewändern aus dem Busch. Sie tragen ihre Babys im Tuch auf dem Rücken, die älteren Kinder laufen voran. Zusammen bilden sie einen immer größeren Kreis um die Versammlung. «Christoph hätte sich vor allem gefreut, dass Ihr seinen Traum zu Eurem Traum gemacht habt», sagt Aino Laberenz. «Heute zieht das Leben in das Operndorf ein. Und morgen bauen wir weiter.»
Für 50 Kinder hat seit vergangener Woche die Schule begonnen. Sie stammen zu etwa gleichen Teilen aus den sechs umliegenden Dörfern. Es sind etwa gleichviele Mädchen und Jungen – ungewöhnlich in dem bitterarmen und stark männerbeherrschten Land. Der Unterricht orientiert sich am normalen burkinischen Lehrplan, aber zusätzlich gibt es Angebote für Kunst, Tanz und Musik. Mehrere Künstler haben bereits Projekte zugesagt.
Der sechsjährige Mojammed gehört zu den neuen Erstklässern. «Ich bin stolz, dass ich eine Schule habe», sagt er. «Ich habe schon ein Bild gemalt und Buchstaben gelernt.» Seine Eltern sind Bauern, er lebt mit ihnen und drei Geschwistern auf einem nahegelegenen Gehöft. Sein älterer Bruder bringt ihn mit dem Fahrrad über die holprigen Sandwege zur Schule. Während des Unterrichts bleibt der Bruder am Fenster stehen und schaut mit großen Augen durch die Jalousien. Für ihn gibt es weit und breit keine Schule.
Draußen ist es fast 40 Grad heiß, in den beiden langgestreckten Schulgebäuden bleibt es angenehme 25 Grad kühl. Der preisgekrönte burkinische Architekt Francis Kéré, den Schlingensief früh für das Projekt gewinnen konnte, hat schon an anderen Schulmodellen im Land ein beispielloses natürliches Kühlsystem entwickelt.
Die Mauern aus selbstgebrannten roten Ziegeln sind 30 Zentimeter dick, das Doppeldach mit Gewölbedecke hält die Hitze ab, Lüftungsschlitze und kippbare Holz-Jalousien sorgen für Durchzug. «Die Architektur sieht kompliziert aus, aber wir haben alle Materialien auf der Baustelle erarbeitet», sagt Kéré.
Der Lack an den Türen riecht noch frisch, die Bücherschränke werden erst am Eröffnungstag geliefert, aber dennoch verrät der Ort schon heute viel von seiner Faszination. Neben den Schulhäusern ordnen sich kreisförmig kleine Büros, Aufenthaltsräume und die Kantine für die Kids an. Von den drei Lehrerhäusern oben am Hang geht der Blick weit in die Savanne mit den alten Karité-Bäumen und den verwunschen wirkenden Granitfelsen.
Und mittendrin, im Herz der Anlage, ist mit weiß-roten Stöcken schon der kreisrunde Platz für das Opernhaus markiert. Es soll einmal bis zu 500 oder 600 Schauspieler aufnehmen und ist als dritte und letzte Bauphase geplant. Als nächstes soll eine Krankenstation kommen. In bunte Container verpackt, steht am Rand schon die riesige Bühne der Ruhrtriennale, die das Festival Schlingensief noch zu Lebzeiten für sein Operndorf vermacht hatte.
«Christoph mochte das Bild eines Schneckenhauses, das sich nach und nach ausbreitet mit dem Festspielhaus als Mittelpunkt – wie ein Organismus, der weiterwächst», sagt Laberenz und fügt leise hinzu: «Letztlich halte ich mich noch sehr, sehr streng an das, was Christoph entwickelt hat.»
Die Grundsteinlegung für das Dorf im Februar 2010 hatte der Regisseur noch miterlebt – bereits schwer gezeichnet von seiner Krankheit. «Hier kommen Helfen und Schönheit zusammen, die Reinheit des Lebens und der Kunst vereinen sich», sagte er damals. Einige Monate später starb er mit 49 Jahren an Lungenkrebs.
Zunächst schien die Zukunft des Projekts ungewiss, doch Laberenz brachte es mit Hilfe eines prominenten Unterstützerteams wieder ans Laufen. Die Schirmherrschaft hat der frühere Bundespräsident Horst Köhler übernommen. Auch der Berliner Rechtsanwalt und Kunstmäzen Peter Raue gehört zu den antreibenden Kräften. «Die Schule kann nicht das letzte Wort sein», sagt er. «Das wäre, als würden wir bei einem Theaterstück nur einen von drei Akten aufführen.»
Rund 500 000 Euro hat das Projekt bisher gekostet, mehr als 300 Arbeiter aus der Gegend waren beteiligt. Anders als sonst im Land oft üblich, müssen die Kinder kein Schulgeld zahlen, die Eltern sollen sich aber, wenn möglich, durch Spenden, vor allem aber durch Mitarbeit etwa am Bau oder in der Schulkantine einbringen. In den kommenden fünf Grundschuljahren sollen jeweils weitere 50 Kinder neu aufgenommen werden.
Im Gespräch mit örtlichen Journalisten und später mit betroffenen Eltern im Schatten des großen Palaverbaums kommen immer wieder die Fragen nach der Nachhaltigkeit des Projekts. Läuft es weiter? Wo finden die Kinder nach einer so besonderen Schule Anschluss? Können die umliegenden Orte ihr Identität erhalten?
«Wir haben nicht das Ziel, unsere Schüler alle zu kleinen Künstlern zu machen», sagt der Lehrer und künstlerische Direktor Abdoulaye Ouedraogo. «Aber wir sind sicher, dass die Kinder sehr viel lieber lernen, wenn es kreativ und mit Spaß passiert.» Und der Journalist Richard Tiéné (32) vom Lokalsender Pulsar gesteht: «Am Anfang haben wir geglaubt, dieser Schlingensief ist verrückt. Aber Burkina Faso braucht genau so einen Ort, wo sich der Reichtum unserer Kultur entfalten kann.»
Auch das Goethe-Institut, das zusammen mit dem Auswärtigen Amt und der Kulturstiftung des Bundes zu den Unterstützern gehört, sieht das Operndorf als gute Andockstation, um den Dialog mit den afrikanischen Künstlern anzukurbeln. «Es ist ein Wagnis, aber ein tolles Wagnis. Und wenn alle daran glauben, dann passiert es auch», sagt die für Südafrika und die Subsahara zuständige Institutsdirektorin Katharina von Ruckteschell, die zur Eröffnung 22 Stunden von Johannesburg angereist ist.
Als sich die Dämmerung schon langsam über das Land legt und die Sonne den roten Sand in warmes Gold verwandelt, traut sich ein junger Student aus der Stadt doch noch zu einer entscheidenden Frage. Ob das Projekt nicht letztlich sehr europäisch sei, will er wissen. «Es ist zwar im Kopf eines Deutschen entstanden», sagt Moderator Salif Sanfo, «aber es braucht Burkina Faso, damit wirklich so etwas herauskommen kann.»
Von Nada Weigelt, dpa, 8.10.2011