Das Operndorf, das der 2010 gestorbene Christoph Schlingensief Burkina Faso schenken wollte, nimmt Gestalt an. In Afrika wird das Projekt gefeiert, in Deutschland regt sich Kritik.
Von Wolfgang Höbel
Es ist für afrikanische Menschen verdammt schwer, es ihren europäischen Freunden recht zu machen. Genau besehen ist es sogar unmöglich.
Der Theatermacher Wilfrid Bambara und ein paar andere Bewohner von Burkina Fasos Hauptstadt Ouagadougou suchten eine Antwort auf die Frage: Wie sieht die ideale Party für eine Schuleröffnung aus, wenn diese Schule von deutschen Geldgebern bezahlt wurde? Man kann, ganz klassisch, zwei- bis dreistündige Politikerreden ansetzen, ein Streichquartett von Beethoven aufführen lassen oder einen Festvortrag über die Bildungsideale Alexander von Humboldts bestellen.
Wilfrid Bambara hat sich dann doch anders entschieden: Auf einem staubigen Platz 30 Kilometer östlich von Ouagadougou hat er sechs Dutzend Kinder tanzen lassen. So klingen nun elektrisch verstärkte Popmusik und gellendes Jubelgeschrei über den Festplatz im „Operndorf de Christoph Schlingensief“, wie auf den Schildern am Ortseingang steht.
Christoph Schlingensief, ein träumerischer Revoluzzer und revolutionärer Träumer, wollte hier, in Afrika, sein liebstes Projekt realisieren, ein Dorf für die Oper, Oper für ein Dorf. Er hat es geplant, die Eröffnung der zuerst fertiggestellten Schule findet ohne ihn statt. Im August 2010 ist er an Krebs gestorben. Mit 49 Jahren.
12- bis 16-jährige Tänzer mit Masken, die Giraffen und Elefanten, Antilopen und Löwen darstellen, führen nun, auch zu seinen Ehren, Freudentänze auf. Und mittendrin dirigiert Bambara, 30 Jahre alt, ein sowohl in seiner Heimatstadt Ouagadougou als auch international aktiver Choreograf, mit einem Mikrofon lässig die Jungs und Mädchen. „Wir werden arbeiten, Freunde“, brüllen sie.
„Dies ist ein wahnsinniger Tag“
„Dies ist ein wahnsinniger Tag“, sagt Aino Laberenz, die zierliche Witwe Christoph Schlingensiefs, ins Mikrofon auf dem Festplatz. „Dies ist ein glücklicher Tag“, sagt Koumba Boly-Barry, eine große schwarze Frau mit Hornbrille, die Bildungsministerin von Burkina Faso.
Und damit auch wirklich Festtagsstimmung aufkommt, steuert Madame Boly-Barrys Wagenkolonne aus blitzblank geputzten weißen SUV ein bisschen Sirenengeheul bei, was vor allem die Ziegen und Rinder, die hier in der Savanne unter Affenbrotbäumen weiden, zu beeindrucken scheint.
Es herrscht eine lärmende Euphorie an diesem Morgen. Er markiert für 25 Mädchen und 25 Jungen den Beginn ihrer Schulausbildung. Sie sind zwischen sechs und neun Jahre alt und kommen aus den umliegenden Dörfern. Mit ihren Eltern und Geschwistern haben sie sich am Rand des Festplatzes unter einem auf Holzstelzen aufgespannten blauen Zeltdach versammelt und sehen den Tänzern zu. Der aufgewirbelte rote Savannenstaub zieht in großen Wolken in Richtung der Politikertribüne, wo sich manche der Gäste Tücher vor Mund und Nase halten.
In der Sonnenglut glänzen die Wellblechdächer der Häuser, die der burkinische Architekt Francis Kéré entworfen hat, zwei langgestreckte Schulhäuser gehören dazu, die beiden schmal aufragenden Lehrerwohnungsgebäude und fünf ebenso schmale Küchen- und Wirtschaftsgebäude. Die Häuser haben hohe Fenster mit türkisfarbenen Läden aus Metalllamellen, sie sind auf einfachste Art aus vor Ort gebrannten Lehmziegeln gebaut und doch mit einer raffinierten Belüftung ausgerüstet. „Christoph Schlingensief wäre wahnsinnig happy mit dem, was hier entstanden ist und wie wir es feiern“, sagt Kéré, der fehlerfrei Deutsch spricht und seit 20 Jahren zwischen Berlin und Burkina Faso pendelt. „Ich bin es auch.“
„Ein historisierendes Kitschprodukt“
Leider fand der Kritiker der „Süddeutschen Zeitung“ das Schulfest nicht so toll wie die 500 Zuschauer, die den tanzenden Kindern begeistert applaudierten. Das Spektakel von Wilfrid Bambara belebe „Traditionen, die in der lokalen Bevölkerung kaum noch eine Rolle spielen“, schrieb der Rezensent, es habe viel zu wenig mit dem „gegenwärtigen landestypischen Theater“ zu tun, ein historisierendes Kitschprodukt also, diktiert von „Fachleuten aus der Ferne“.
Ein erstaunliches Urteil. Winfrid Bambara, der Choreograf, hat sechs Wochen lang mit über 70 Jugendlichen aus den Dörfern, die rund um das Operndorf liegen, über ihre Gedanken und Ideen zur Schuleröffnung diskutiert. Er trainierte fast täglich mit ihnen, bei weit über 30 Grad Celsius und stets unter freiem Himmel, weil es an schattenspendenden Dächern fehlte. Und er hat einen wilden, heutigen Popspaß zustande gebracht.
Der Kritiker der „Süddeutschen“ aber war nicht nach Burkina Faso ins Operndorf gekommen. Für sein Urteil genügten ihm ein paar Zeilen auf der Web-Seite des Goethe-Instituts von Ouagadougou über das dramaturgische Konzept des Tanz-Workshops: willkommener Beleg für die Behauptung des Zeitungsfachmanns aus der Ferne, das Schlingensief-Projekt sei eine „Schwarzwaldklinik für die Seele“.
Die Schule ist für insgesamt 300 Kinder ausgelegt, die in den kommenden Jahren nach und nach hier aufgenommen werden sollen. Sie ist der erste Baustein eines Unternehmens, zu dem am Ende eine Krankenstation, eine Gäste-Unterkunft und ein Festspielhaus gehören sollen. „Ein Gesamtkunstwerk, das afrikanische und europäische Kulturen verbindet und so zu einer Erneuerung der totgespielten Oper führt“, hat sich der Künstler Schlingensief hier in den Monaten vor seinem Tod gewünscht, einen „Ort der Transzendenz im Alltag“. Die Schule soll auch Musik- und Filmunterricht anbieten.
In Kamerun, Namibia und Mosambik haben Schlingensief und seine Frau Aino Laberenz nach Standorten für das Operndorf gesucht, in Burkina Faso, einem der ärmsten und seit vielen Jahren friedlichsten Länder Afrikas, wurden sie fündig. Rund 500.000 Euro an Spendengeldern wurden bislang verbaut, der Sänger Herbert Grönemeyer hat 100.000 Euro gegeben, der Regisseur Roland Emmerich und der Schriftsteller Henning Mankell ebenso viel, der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler ist Schirmherr. Bei der Schuleröffnung fehlte er. Dafür sind der neubestellte deutsche Botschafter und der Leiter der örtlichen Goethe-Niederlassung da.
Der hemmungslose Forschergeist ist das Einzigartige am Operndorf
Der Goethe-Mann heißt Peter Stepan und ist ein grauhaariger spirreliger Mann, der eine gewisse Abgebrühtheit zur Schau stellt. Die Politiker in Burkina Faso rechneten ihr Land möglicherweise ein bisschen ärmer, als es wirklich sei, sagt er, wirklich hungern müsse derzeit wohl niemand. In gewisser Weise sei es „der totale Luxus“, der den Operndorf-Kindern geboten werde, schon deshalb, weil sie anders als in allen anderen Schulen des Landes kein Schulgeld und kein Essensgeld bezahlen müssten. Die Idee Schlingensiefs, „hier einen Ort des künstlerischen Austauschs zu schaffen“, findet Stepan „einzigartig, in jeder Hinsicht großartig“.
Nur herrscht über die genauen Inhalte dieser Idee derzeit Unklarheit.
Seit Monaten halten Stepan und seine Mitarbeiter sogenannte Dorfgespräche ab, um ja niemanden vor den Kopf zu stoßen, weder die Anrainer des Operndorfs noch die Politiker in Ouagadougou. Stepan will Neugier wecken und erfahren, wie die Arbeit des Projekts nach Ansicht der Einheimischen aussehen könnte. Manchmal holen sich die Goethe-Leute auch bei Experten aus Deutschland Rat.
Umsetzung „schwieriger als ursprünglich geplant“
Und deren Urteile finden sich auch in deutschen Zeitungen. In der „Zeit“ kam ein Ethnologenpaar aus Mülheim an der Ruhr und Trier nach einem Besuch in Burkina Faso im Frühjahr zu dem Befund, die Umsetzung von Schlingensiefs Ideen sei „schwieriger als ursprünglich gedacht“. Die beiden Ethnologen hätten, so Schlingensiefs Witwe Aino Laberenz, zuvor Interesse bekundet, am Projekt beratend mitzuwirken. Nach Darstellung der Ethnologen hat es ein solches Beratungsangebot nicht gegeben.
In der „Zeit“ schrieben die Ethnologen dann, sie hätten herausgefunden, dass es den Operndorf-Plänen an „breiter Zustimmung“ im Land mangele, zudem seien heimische Künstler nicht genug eingebunden in den Beirat des Dorfes, „weder in der Geschäftsführung noch im illustren Kreis der Festspielhausleitung fanden sich bisher ausgewiesene Burkina-Kenner oder gar lokale Vertreter“.
Angesichts der positiven Berichte in Burkina Fasos Zeitungen und im Fernsehen der Region, die nun dem Schulstart galten, wirkt das Urteil etwas vorschnell.
Zu den „illustren“ Menschen, die inzwischen einen Operndorf-Beirat von einheimischen Künstlern bilden, gehört neben anderen ein Mann, den sie in Burkina Faso Smockey nennen. Er ist ein breitschultriger Hüne, er hat lange in Frankreich gelebt und betreibt nun ein Musikstudio in der Hauptstadt. Vor allem aber singt er populäre Lieder, in denen er gegen die Mächtigen und Korrupten rappt, vor Monaten wurde er dafür zum besten Rapper Afrikas gekürt.
Während der Eröffnungsfeier der Dorfschule steht Smockey auf einem großen Felsbrocken am Rand des Festplatzes und stemmt die Hände in die Hüften. „Bis heute denken viele Menschen in Afrika, mit Musik und Theater beschäftigen sich nur diejenigen, die nichts Besseres zu tun und alles andere verloren haben“, sagt er. „Ich erhoffe mir von der Schule, dass die Kinder hier lernen, welche befreiende Kraft die Kultur haben kann.“
So macht sich jeder in Burkina Faso seinen Reim auf das Traumgebilde, das der sterbende Künstler Schlingensief mit großer Energie, aber auch mit der ihm eigenen Widersprüchlichkeit in die afrikanische Savanne halluziniert hat.
Die Suche nach neuen Ausdrucksformen als Lebensjob
Sosehr Schlingensief in seiner letzten Arbeit um sozialen Ausgleich bemüht war, mit soziologischen, ethnologischen, überhaupt wissenschaftlichen Maßstäben ist sie wohl nur bedingt zu messen. Mehr als andere Künstler hat der Theater- und Filmemacher die Suche nach neuen Lebens- und Ausdrucksformen als Lebensjob begriffen, dabei stets die beinah zu Tode zitierte Losung „Scheitern als Chance“ wie einen Schutzschild präsentierend.
Man kann Schlingensiefs Afrika-Sehnsucht naiv finden. Man kann ganz zu Recht fragen, ob er mit dem Begriff „Oper“ im Operndorf-Projekt nicht eigentlich etwas ganz anderes meinte als ein noch so weit gefasstes Musiktheater; das Wort von der „totgespielten“ Kunst beschrieb bei ihm jedenfalls eher die Summe aller künstlerischen Betätigungen des weißen Mannes. Auch im Operndorf sollte es um alle Ausdrucksmittel gehen.
Und man kann argumentieren, dass die ums Überleben kämpfenden Menschen in Burkina Faso Wichtigeres brauchen könnten als ein geschenktes Operndorf. Sinn und Erfolg dessen, was vor den Toren Ouagadougous entsteht, sind ungewiss. Die Experimentierlust aber, die der Architekt Kéré, Aino Laberenz und ihre Crew mit echt schlingensiefschem Furor für sich reklamieren, ist vielleicht schon dadurch gerechtfertigt, dass beim Operndorf-Bau vorwiegend gespendetes und nur sehr begrenzt öffentliches Geld eingesetzt wird.
Obsessiv betonte Schlingensief zu Lebzeiten die Ziellosigkeit dieser Aktion, seinen Wunsch, die Einheimischen möchten die Fremden das Staunen und das Fürchten lehren. Man schicke das Geld einfach nach Afrika nach dem Motto „Macht damit, was ihr wollt“, sagte er über das Projekt. Dieser hemmungslose Forschergeist ist, im Guten wie im Schlechten, das Einzigartige am Operndorf.
Schlingensief war ein ungestümer Phantast, ein Freund und Feind überrumpelnder Wirrkopf. Aber bis fast zuletzt war er wach und schlau genug, die Argumente der Operndorf-Skeptiker mitzudenken; oft münzte er sie um in Selbstanklagen.
Im Filmsaal des Dorfes in Burkina Faso sitzen am Eröffnungstag Dutzende Kinder und Erwachsene vor einem Flachbild-Fernsehschirm, gezeigt wird eine Aufzeichnung der letzten Theaterarbeit Schlingensiefs. Sie heißt „Via Intolleranza II“ und ist teils in Burkina Faso entstanden, ein Spektakel mit kruder Musik, Wehgeschrei, Lichtblitzen auf einem Vorhang und Filmclips aus „Tristan und Isolde“. Es ist nicht der Stoff, mit dem man Schulanfänger in irgendeinem Land der Welt zuballern sollte.
„Nehmt mich, steckt mich in einen Kochtopf“
Aber es ist eine prima Lektion für alle Erwachsenen, die verstehen wollen, aus welcher Not und welchem lustigen Wahnsinn ein deutscher Künstler die Idee zu diesem Operndorf in Afrika geboren hat. Inmitten der wilden „Via Intolleranza“-Show fordert ein Schlingensief-Darsteller von seinen schwarzen Mitspielern mit viel Gebrüll: „Nehmt mich, steckt mich in einen Kochtopf, und scheißt mich raus!“
Früh in seiner Karriere, im Jahr 1988, formulierte Christoph Schlingensief, damals noch vor allem Filmemacher, einen Appell an die Zuschauer, der den Gegensatz zwischen der Kaputtheit und der Unschuld, zwischen Glanz und Elend seiner Kunst schön auf einen Nenner bringt. Wir lebten „in einer Zeit, in der man uns alles erklärt hat“, schrieb er damals. „Wie großartig sind da gerade die Dinge, die nichts erklären. Wie großartig ist die Monstranz, die etwas zeigt, was wir nicht wissen.“
In den nächsten Monaten werde weitergebaut werden im Operndorf, sagt Aino Laberenz. „Ich frage mich nicht dauernd, ob ich die Arbeit hier so vorantreibe, wie Christoph es wollte. Ich weiß, dass ich grundsätzlich sein Okay habe, das reicht.“ Sie habe sich nie als Jüngerin begriffen. „Jünger halten jeden Satz des Meisters für ein Gesetz und machen so seine Gedanken kaputt.“
Die Schneckenform des Festspielhauses, das in Burkina Faso entstehen soll, ist mit weiß-roten Holzpflöcken im Sand des Operndorfs abgesteckt. Laberenz schreitet den Parcours entlang. Um den Weiterbau und um die Spenden, die dafür eingetrieben werden müssen, werden sich in den nächsten Monaten vor allem ihre Mitstreiter im Operndorf-Verein kümmern. Laberenz will aus ihrer Rolle als Nachlassverwalterin heraus, in Köln wird sie in den nächsten Wochen zum ersten Mal seit Schlingensiefs Tod wieder in ihrem Beruf als Kostümbildnerin arbeiten.
Sie müsse das Dorf, von dem ihr Ehemann träumte, in Burkina Faso neu erfinden, sagt die Witwe, „aber ich habe gemerkt, dass ich auch mich neu erfinden muss“.
Quelle: DER SPIEGEL Nr. 42/2011