Seine Vision von einem Operndorf in Afrika nimmt immer deutlichere Konturen an. Aber auch die Leerstelle, die der Künstler Christoph Schlingensief durch seinen Tod hinterließ, wird immer sichtbarer.
Zuletzt wurden im Hamburger Bahnhof, dem Berliner „Museum für Gegenwart“, 84 Kunstwerke versteigert: Bilder, Installationen, Videoarbeiten, gespendet von Künstlern und Sammlern, zum Besten von Christoph Schlingensiefs „Operndorf“-Vision „Remdoogo“ im fernen Burkina Faso. Munter schwang Peter Raue, Anwalt des Rechts und der Künste, das Hämmerchen: „Lassen Sie mich nicht immer bis drei zählen, es geht schließlich um eine gute Sache!“ Zur „Auktion 3000“ hatte sich eine gemischte Gesellschaft versammelt: Neben dem erhofften Bieter-Publikum und den Berliner Kultur-Adabeis, gut unterscheidbar, auch die Freunde – die Mitglieder jenes erweiterten Familienbegriffs, den der 2010 gestorbene Regisseur pflegte und den andere als „Gemeinde“ bezeichnen, wenn nicht als „Jüngerschaft“. Das ist kein Wunder, denn Christoph Schlingensief, der sich so existentiell mit dem längst erledigt geglaubten Thema der Erlösung auseinandergesetzt hat wie lange kein Künstler vor ihm, wurde und wird von manchen, die ihn nicht zum notorischen Provokateur oder wahlweise zum netten Schwiegersohn neutralisierten, selbst als Erlöserfigur wahrgenommen.
Schlingensiefs Tod im August 2010 bedeutete eine Zäsur für den Kulturmedienbetrieb. Schon die Nachrufe markierten mit ihrem Pathos den Einschnitt. Das reichte von der traurigen Prognose, es werde ohne ihn langweiliger in der deutschen Kultur, bis zur dunkel orchestrierten Feststellung, dass hier der Verlust eines großen Künstlers zu beklagen sei. Anderthalb Jahre danach, am Abend der „Auktion 3000“, wird deutlich, was seitdem fehlt. Die Szene hat etwas Surreales und ist nicht ohne die besondere Schlingensiefsche Ironie: Die Künstlerfreundin Patti Smith singt, spontan und unbegleitet und eigentlich herzzerreißend, eine Liebeserklärung – es wäre ganz still im Raum, wenn nicht immer wieder ein Champagnerglas klirrte. So geht es um Andacht, aber auch darum, finanzstarke Bieter in Laune zu bringen.
Die essentiellen Dinge von der Kunstsphäre trennen
Am Ende war die Millionengrenze durchbrochen. Sie sei überwältigt, sagt Aino Laberenz, die man kaum Schlingensiefs Witwe nennen mag – so mädchenhaft erscheint sie, so erfüllt von der Mission, dass weiterleben möge, was Schlingensief als „Soziale Skulptur“ vorschwebte: der ins Existentielle geöffnete Opernbegriff. In einem der ärmsten Länder Afrikas entsteht diese „Village Opera“. Eine Schule gibt es schon, nicht nur fürs Lesen und Schreiben, sondern auch fürs Filmen und Tanzen. Jetzt kann weitergebaut und -gelehrt werden. Eine Krankenstation ist das Nächste, weitere Wohnmodule, Gästehäuser, am Ende ein zentrales Hallen-Oval: das „Festspielhaus“.
Auf den ersten Blick sieht Schlingensiefs „Operndorf“ aus wie ein Sozialprojekt in einem sehr armen Land. Es wächst, nach den Plänen des burkinischen Architekten Francis Kéré, tatsächlich auf einem Hügel, etwa dreißig Kilometer östlich der Hauptstadt, der aber kein grüner, sondern eher ein gelber ist. Für Schlingensief war es ein „sozialer Klangkörper“, in dem Kinder zur Schule gehen, fünf Hektar Ackerfläche bebaut, Sport getrieben, Kranke versorgt werden. Es wird aber auch getanzt und gesungen, es werden Filme gedreht, die in einem kleinen Kino zu sehen sind, Hörspiele im eigenen Tonstudio produziert.
“Von Afrika lernen“, so das Motto, heißt hier, die für uns selbstverständliche Trennung der Kunstsphäre von den essentiellen Dingen des Lebens zu ignorieren – wie auch die sehr europäische Frage, was genau denn daraus werden solle. Die geniale Wortschöpfung „Operndorf“ verwirrt die Menschen in Ouagadougou weniger als die Kulturmenschen hier, die sich fragen, was denn ein „Festspielhaus“ in einem Hüttendorf zu suchen habe? Und ob Schlingensief da wirklich ein afrikanisches Neubayreuth aus der Steppe stampfen wollte? Tatsächlich ist das Operndorf eben auch eine Luftspiegelung des hiesigen Kulturbetriebs, ein Ort, von dem aus das Eigene in Frage gestellt wird. „Wir erweitern den Opernbegriff“, so steht es im Konzept, „und lassen einfach mal alle Einschränkungen beiseite, die wir mit Oper verbinden: korpulente Menschen auf opulenten Bühnen, die um den richtigen Ton kämpfen, und Opernkenner, deren ganzes Glück darin besteht, herauszuhören, wann das mit dem richtigen Ton nicht geklappt hat. Damit haben wir nichts zu tun.“
Darin liegt eine Grundsatzkritik an institutionellen Gewissheiten, die ihn durchaus mit dem Gesamtkunst-Erneuerer Wagner verband. Denn Schlingensief zielte leidenschaftlich aufs Ganze und setzte sich in immer neuen Selbstversuchen aufs Spiel. Es war ihm aber, bei allem Witz und Schlawinertum, unbedingt ernst. Inzwischen wird deutlich, was dem kulturell-medialen Komplex fehlt, seit er fehlt: gerade nicht der Spaßmacher, sondern der Ernstmacher.
Pierre Boulez nahm ihn an die Hand
Bereits während der Arbeit am Bayreuther „Parsifal“ war Afrika für den Regisseur zum Fluchtpunkt geworden. Zunächst beschallte er Namibia mit Wagner-Musik und fand seine Gralsburg dort. Über Afrika führte für ihn der Weg zur „Rückgewinnung unserer Kreativität“: „Es geht um die Entkernung unseres Kulturkomplexes, wie wir ihn hegen und pflegen, und um die Besinnung auf das ursprünglich größte Kunstwerk aller Zeiten: das Leben und seine Entfaltungsmöglichkeiten.“
Dass diese Entdeckung für den Künstler Schlingensief zusammenfiel mit der Gewissheit, das eigene Leben verlieren zu müssen, hat ihn empört. Er glaubte, es sei die Beschäftigung mit dem „Parsifal“ gewesen, 2004 in Bayreuth, die seinen Körper dem Krebs ausgeliefert habe. Als nach dem letzten Bild, dem zu Wagners „Erlösung dem Erlöser!“-Musik projizierten Film eines verwesenden Hasen, die erwartbaren Wut-Stürme über den Opernanfänger Schlingensief hereinbrachen, geriet dies zu einem der bleibenden Momente in der Festspielgeschichte: Der gerade noch gefeierte Pierre Boulez trat demonstrativ gemeinsam mit Schlingensief vor den Vorhang und nahm ihn bei der Hand.
Boulez wird sich erinnert haben an die Aufregungen nach Chéreaus „Jahrhundertring“ 1976. Auch damals hatte man sich erregt über einen angeblich respektlosen Umgang mit Wagner. Schlingensiefs den Rahmen jeder „Interpretation“ sprengender „Parsifal“ verstörte vor allem diejenigen, die überall immer nur Provokation sehen wollten. Dabei hat sich kaum je ein Regisseur so rückhaltlos auf Wagners finster-heillose Theater-Theologie der blutenden Wunden und des Mitleids eingelassen. Dies – und nicht die nach außen getragenen Querelen über Schlingensiefs Arbeitsweise – war der Festspielleitung wohl derart unheimlich, dass sie die Inszenierung schon 2007 aus dem Programm nahm. Dass es von dieser außerordentlichen Aufführung keine Dokumentation gibt, bleibt ein Jammer. Jetzt kann sie nur noch Legende werden.
Den Faxen schaute man gerne zu
Christoph Schlingensief suchte das Ungesicherte, das Dunkle zwischen den Bildern, als Aktionskünstler, Film- und Theatermann, auch in seinen Hörspielen, die (seit „Rocky Dutschke, 68“ von 1997) für den WDR entstanden und für die er die zu Lebzeiten größte Anerkennung erfuhr. Gerade da, wo er seine Wurzeln sah, im Film, hatte er es hingegen am schwersten. Doch wie auch immer: Hier wütete ein Radikaler, der mit allen Mitteln aufs Ganze zielte. Das machte den Schritt nach Bayreuth so logisch wie wundersam. All sein Rennen und Schreien, das Entblößen des Privaten waren Mittel zur Herstellung von Aufmerksamkeit für die Sache.
Zur Tragik des Künstlers Schlingensief gehörte aber auch, dass das Schreien, Rennen und Entblößen von den Medien, die nichts anderes kennen, für die Sache selbst genommen wurde, seine Kunst aber übersehen. So wurde er zum Provokateur und Faxenmacher verkürzt. Den Faxen schaute man gern zu, um den bereitwillig mitentfachten Schlingensief-Rummel dann irgendwie oberflächlich zu finden. Es ist nur der andere Flügel dieses Diptychons der Verkehrtheit, wie dann sein beklommen verfolgtes öffentliches Sterben den Blick für die Kunst wieder abgleiten ließ: Seinen letzten Oratorien über den eigenen Tod wurde von der Kritik reihenweise die differenzierte Einlassung verweigert mit dem Hinweis, darüber lasse sich nicht mehr schreiben.
Mit dem Erlös einer guten Million aus der „Auktion 3000“ wird das „Operndorf“ in Ouagadougou jetzt zum Nachbild einer im Kulturbetrieb einzigartigen Künstlerexistenz, die sich immer gut eignete für Projektionen aller Art. Er liebte es, mit den Medien zu spielen, und war eine Lieblingsfigur der Medien. Stur sahen sie an dem vorbei, worauf Schlingensief, schreiend und rennend und am Ende immer verzweifelter, zeigte. Jetzt wird es sichtbar – als Leerstelle.
Quelle: F.A.Z.