WEIT UND BREIT KEINE OPER (F.A.S.)

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Fast alle Bilder, die wir von Afrika kennen, haben wir gemacht. Das wollte Christoph Schlingensief ändern. Deshalb entsteht dort ein Dorf und bald auch ein Festspielhaus.

Von Johanna Adorján

Burkina Faso ist eins der ärmsten Länder der Welt. Es liegt in Westafrika, nördlich von Ghana oder der Elfenbeinküste, die Lebenserwartung liegt für Männer bei 52, für Frauen bei 56 Jahren, fast drei Viertel der Bevölkerung können nicht lesen und schreiben. Das Auswärtige Amt rät derzeit bei Reisen in dieses Land zu erhöhter Vorsicht, da das Entführungsrisiko für Ausländer im an Mali grenzenden Norden gestiegen sei – die Hauptstadt, Ouagadougou, galt bisher als ziemlich sicher, sie scheint es aber nicht länger zu sein, doch dazu später mehr.

Dass Christoph Schlingensief ausgerechnet hier ein „Operndorf“ geplant hat, klingt zunächst absurd. Die Burkinabé, wie man die Bewohner nennt, benötigen sicher vieles dringender als Opern oder ein Festspielhaus, muss denken, wer nichts weiter über das Projekt weiß.

Ein Extralehrer für Kunst

Am vergangenen Wochenende war Horst Köhler, vorletzter Bundespräsident a. D., vor Ort, um sich zum ersten Mal persönlich ein Bild von dem Projekt zu machen, dessen Schirmherr er ist. Schlingensiefs Frau Aino Laberenz, die mit ihren 31 Jahren viel zu jung dafür wirkt, Witwe genannt zu werden, ist aus Berlin angereist. Zusammen mit dem Architekten des Projekts Francis Kéré, der aus Burkina Faso kommt, aber die Hälfte des Jahres in Deutschland lebt, wird sie Köhler durch das Operndorf führen, das sich noch im Bau befindet.

 Foto: Johanna Adorjan

Es ist ein heißer Tag, vierzig Grad im Schatten, und Köhler und seine Entourage lassen auf sich warten. Zeit für erste Eindrücke.

Das Operndorf befindet sich vierzig Autominuten nordöstlich von Ouagadougou, mitten auf dem Land. Ein Schild weist den Weg zum „Village Opéra“ (die offizielle Landessprache ist Französisch), über einen unbefestigten Weg erreicht man eine Ansammlung von roten Häusern, gebaut aus mit Zement angemischtem Lehm. Das größte Gebäude, ein langgezogener Bau, beherbergt eine Schule. Seit Oktober läuft der Unterricht. Fünfzig Grundschüler aus den umliegenden Dörfern und Gehöften, 25 Mädchen und 25 Jungen, lernen jetzt Schreiben und Lesen, Französisch und Rechnen, der Lehrplan entspricht den staatlichen Vorschriften; außerdem gibt es einen Extralehrer für Kunst.

Das Fundament ist gegossen

Weiter oberhalb auf dem leicht ansteigenden Gelände sind einige kleinere Gebäude. Kéré hat so gebaut, dass zwischen Grundmauern und Wellblechdach ein Freiraum bleibt, der für eine natürliche Lüftung sorgen soll – tatsächlich geht innerhalb der Häuser ein angenehmer, leichter Wind. Hier werden einmal Magazine und Werkstätten untergebracht sein, möglicherweise werden die Häuser auch bewohnt. Dahinter liegt die Kantine, ein Speisesaal mit angeschlossener Küche. Hier bereiten die Mütter der Schüler täglich eine warme Mahlzeit zu.

Einen Hügel hinab geht es zur aktuellen Baustelle: Hier entsteht eine Krankenstation. Sie ist wichtigster Bestandteil der zweiten Bauphase, in der sich das Projekt gerade befindet. Um keine Konkurrenz zu den Krankenhäusern der Umgebung darzustellen, soll dort nicht operiert werden; vorgesehen sind medizinische Erstversorgung und eine Geburtsstation. Das Fundament ist gegossen, die Bauarbeiten schreiten täglich voran. In Bauphase drei wird dann das Festspielhaus entstehen.

„Das Endergebnis ist offen“

Von jenem ist bislang nur zu sehen, dass es einen runden Grundriss bekommen wird, „ähnlich einem Schneckenhaus, so hat Christoph sich das ausgedacht“ – aber sollen dort allen Ernstes Opern aufgeführt werden, ein kleines Bayreuth mitten in der Savanne von Burkina Faso? Aino Laberenz schüttelt freundlich den Kopf.

Foto: Johanna Adorjan

“Fast alle Bilder, die wir von Afrika kennen, sind von uns gemacht. Es geht darum, das zu ändern. Dass wir endlich die Gelegenheit bekommen, ein anderes Bild von diesem Land zu sehen, eines, das von den Menschen von hier kommt.“ Deshalb wird in der Schule irgendwann auch Film unterrichtet werden, die technische Ausrüstung wird zur Verfügung gestellt, ein Tonstudio gibt es schon. „Ich sehe das Operndorf wie einen Werkzeugkasten, der den Menschen hier zur freien Verfügung stehen soll“, sagt Laberenz. „Da sollen die sich bedienen und ihrer Kreativität freien Lauf lassen können. Kunst ist ja immer auch ein Schutzraum, in dem man Dinge sagen kann, ohne befürchten zu müssen, dass das politische Folgen hat.“

Christoph Schlingensief hat unter Kunst immer mehr verstanden als etwas, das dem Zuschauer vorgeführt wird und er bequem konsumiert. Seine Arbeit hatte konkret mit dem Leben zu tun, mit politischen Missständen, sozial Ausgegrenzten und ganz persönlichen Ängsten, als Regisseur leistete er leidenschaftlich und in einer fast kindlichen Offenheit Widerspruch. „Natürlich wusste er, dass es für Diskussion sorgen würde, wenn er den Begriff ,Oper’ in Zusammenhang mit Afrika stellt“, sagt Laberenz. „Er wollte den Blick auf Burkina Faso lenken, ein so kleines, armes Land mit so einem großen kulturellen Reichtum. Es gibt hier die größte Filmszene Westafrikas, das Filmfestival, das alle zwei Jahre stattfindet, ist ziemlich berühmt. Außerdem gibt es eine große Theater- und Tanztradition.“ Was letztlich auf der Bühne im Operndorf passieren wird, weiß sie nicht. „Das Endergebnis ist offen, und so soll das auch sein. Das soll keine Bühne für uns sein, sondern für die Burkinabé, und im besten Fall können wir dazukommen und von ihnen lernen oder gemeinsam, auf Augenhöhe, etwas untersuchen, machen oder diskutieren.“

Kein deutsches Projekt

Es gibt viele, die sagen, Projekte wie dieses seien in Afrika doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein (es ist dann auch immer dieser Ausdruck, der fällt). Um dem Kontinent wirklich zu helfen, müssten ganz andere Sachen geschehen, die Subventionierung europäischer Importe gestoppt werden, damit afrikanische Produkte auf dem heimischen Markt eine Chance hätten und so weiter. Auch wenn das richtig ist, ist es dann falsch, überhaupt etwas zu tun?

Aino Laberenz will das Operndorf nicht als deutsches Projekt verstanden wissen, nicht als Hilfe zur Selbsthilfe, nicht als ein aus einem Überlegenheitsgefühl heraus entstandenes „gutes Werk“. In gewisser Weise ist es das natürlich trotzdem, jedenfalls in seiner Entstehung. Aber wenn alles gut läuft, wird es einmal zu einem Projekt der Menschen aus Burkina Faso. Im Idealfall wird der Staat die Schule irgendwann übernehmen – an den Kosten für die Stromlegung hat er sich schon mal zur Hälfte beteiligt. Um den Kunstunterricht festzulegen, hat Laberenz ein Komitee gegründet, das aus Künstlern aus Burkina besteht; die Männer auf dem Bau kommen aus Nachbardörfern; verschiedene Ministerien sind involviert. Vielleicht lässt sich bei diesem Projekt einfach von deutscher Unterstützung sprechen.

Auf Spenden angewiesen

Als Schlingensief starb, im August 2010, hatte er fürs Operndorf gerade einen Baustopp verhängt. Es hatte mit praktischen, die Bauarbeiten betreffenden Dingen zu tun. Nach seinem Tod stellte sich natürlich die Frage, wie es mit dem Projekt weitergeht. Aino Laberenz sagt, sie habe nur kurz überlegt. Sie habe sich zuerst informieren müssen, was genau es bedeutet, Geschäftsführerin zu sein – ihr eigentlicher Beruf ist Kostümbildnerin. „Ich weiß, wie wichtig Christoph dieses Projekt war, und es aufzugeben war nie eine Option. Auch deshalb, weil ich von den Menschen aus Burkina Faso, die daran beteiligt sind, wirklich sehr darum gebeten wurde, es fortzuführen.“

Fürs Operndorf ist sie auf Spenden angewiesen, die zu bekommen nach dem Tod ihres Mannes schwieriger geworden ist. „Christoph konnte mit seinem Charme Leute ganz anders begeistern, als ich es kann“, sagt sie. Vor kurzem hat sie bei einer Auktion in Berlin, für die Künstler wie Marina Abramovic, Matthew Barney oder John Bock Arbeiten zur Verfügung stellten, etwas über eine Million Euro gesammelt. „Für die Krankenstation reicht das dicke, wie es weitergeht, weiß ich noch nicht. Da muss ich mir halt wieder was einfallen lassen“, sagt sie und lacht.

Warum Burkina Faso?

Laberenz hat ein Team von zwei Mitarbeiterinnen, auch der Anwalt Peter Raue unterstützt das Projekt. Doch es ist sie, die die Verantwortung für Bauarbeiten und den laufenden Schulunterricht trägt, die sich, wenn es zwischen verschiedenen Parteien vor Ort zu Spannungen kommt (was auf einem Bau ebenso passiert wie in jeder anderen Zusammenarbeit), mit allen zusammensetzt und nach Lösungen sucht, was sie mit ruhiger Autorität tut. Und sie war es auch, die zwischen den Häuptlingen vermittelt hat, in deren Einflussbereich das Operndorf liegt. Drei haben in dieser Gegend das Sagen, und zwei von ihnen sind seit Jahren miteinander verfehdet. Dass es einer Deutschen gelungen ist, sie an einen Tisch zu bekommen und von beiden ihr Okay zu diesem Projekt, wird von den Menschen vor Ort als mittleres Wunder angesehen, wie dem ungläubig lachenden Kopfschütteln zu entnehmen ist, mit dem sie mir von dieser Tatsache berichten. Die zerstrittenen Häuptlinge sind für den Köhler-Besuch beide erschienen – sehr eindrucksvoll in bodenlangen Gewändern, der eine mit Säbel – während des Wartens tun beide so, als sähen sie den anderen nicht, sitzen aber nicht weit voneinander entfernt.

Foto: Johanna Adorjan

Warum eigentlich ausgerechnet Burkina Faso? “Christoph hatte ja eine lange Geschichte mit Afrika“, sagt Laberenz. „Er hat da oft gearbeitet, ist immer wieder dorthin gereist. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass er sich sehr mit dem Begriff von Heimat auseinandergesetzt hat. Und auch wenn es kitschig klingt, ist man in der Fremde natürlich viel mehr mit sich selbst konfrontiert und damit, woher man kommt.“ Nachdem die Idee zum Operndorf entstanden war, seien sie viel durch Afrika gereist, auf der Suche nach dem richtigen Ort. „Dann hat Christoph den Filmemacher Gaston Kaboré kennengelernt, der aus Burkina kommt und mit ihm zusammen in der Berlinale-Jury war. Der hat ihm von der Filmszene hier erzählt. Und als wir dann hier waren, hat sich der Kultusminister für das Projekt begeistert und uns das Stück Land geschenkt, auf dem wir jetzt bauen.“

Ein kurzes Gruppenfoto

Inzwischen ist es fast vier, Köhlers Besuch war für zwei Uhr angesagt, und die Kinder, die an ihrem schulfreien Tag gekommen sind, um für den hohen Besuch aus Deutschland ein Lied zu singen, das sie eigens für diesen Anlass einstudiert haben, stehen etwas unschlüssig herum. Viele scheinen Freunde oder Geschwister mitgebracht zu haben, es sind auf jeden Fall weit über fünfzig. Auch vom Goethe-Institut ist jemand da; außerdem der Mitarbeiter der Organisation Grünhelme, der die Bauarbeiten leitet; und viele andere, Schwarze und Weiße. Schlingensiefs Berlinale-Jurykollege Gaston Kaboré muss schon wieder gehen, was er bedauert, er habe aber leider einen anderen Termin. Und dann, als alle schon ganz matt sind vom langen Warten in der Hitze, kommt auf einmal Nervosität auf, ein Auto-Konvoy nähert sich der Anlage, wird von motorisierten Polizisten mit Blaulicht begleitet, wirbelt roten Staub auf.

Köhler, der einen Sonnenhut trägt und trotz der Hitze schwarze Strümpfe, steigt aus einem der Wagen, schüttelt im Gehen Hände, steht schon nach kurzer Zeit im Klassenraum, in dem sich die Schüler flugs an ihre Bänke gesetzt haben, hört sich das Lied an, alle strahlen sich an. Beim anschließenden Rundgang übers Gelände stellt er viele Fragen, ob zum Bau ausschließlich lokale Materialien verwandt wurden (ja), ob die Arbeiter aus der Gegend stammen (ja), bekommt die fertigen Gebäude und das Fundament der Krankenstation gezeigt, wird den Häuptlingen vorgestellt, scheint insgesamt sehr interessiert und angetan. Höhepunkt seines Besuchs bildet die offizielle Einweihung des neuen Fußballplatzes. Unter der langsam milder werdenden Sonne des späten Nachmittags liefern sich die Schüler ein rasantes Match. Kurzes Gruppenfoto mit Präsident a. D. und beiden Mannschaften, dann rauscht Köhler mit seiner Entourage wieder ab, die Blaulichter verlieren sich schnell in der roten Landschaft.

Lebenserwartung bei 52 Jahren

Zurück in der Hauptstadt, erfahre ich am selben Abend, dass es in diesem Land für Besucher nicht ganz ungefährlich ist. Auf dem Rückweg vom Restaurant ins Hotel – belebte Gegend mitten in der Stadt, aber eben auch die Gegend, in der sich die Hotels für die Touristen befinden – wird mir von zwei Männern auf einem Moped die Handtasche entrissen. Dass ich sie extra auf der von der Straße abgewandten Seite trage, nützt nichts – das Moped nähert sich von hinten auf dem Gehsteig, als ich das Motorengeräusch höre, ist es zu spät, geben sie schon Gas, und weil ich aus einem dummen Reflex nicht gleich loslasse, werde ich noch mehrere Meter über den Boden mitgeschleift, bis, endlich, der Träger reißt und sie mit meiner Tasche entkommen. Doch im Vergleich dazu, was wenig später passieren soll, habe ich, die ich nur Schürfwunden davontrage, unendlich viel Glück gehabt.

Selbe Straße, ein Abend später: Der Mitarbeiter der Grünhelme, eine Frau aus dem Operndorf-Team und eine weitere Frau finden sich auf einmal von mit Messern bewaffneten Männern umringt. Den genauen Tathergang kenne ich nicht, doch es endete damit, dass der Grünhelme-Mitarbeiter ein Messer in den Rücken bekam. Er wurde noch in derselben Nacht notoperiert, verlor ziemlich viel Blut, doch es geht ihm den Umständen entsprechend gut.

Burkina Faso ist eins der ärmsten Länder der Welt. Die Lebenserwartung für Männer liegt bei 52 Jahren, fast drei Viertel der Bevölkerung können nicht schreiben und lesen – dass es dort zu Übergriffen gegen reichere Ausländer kommt, ist nicht wirklich verwunderlich. Umso wichtiger ist ein Projekt wie Schlingensiefs Village Opéra. Es geht die wichtigsten Dinge im Leben der Menschen dort an: Bildung, medizinische Versorgung und ein Selbstbewusstsein, das sich aus dem kulturellen Reichtum des Landes speist – und uns endlich andere Bilder aus Afrika liefern kann als die von Armut oder Gewalt. Im Herbst wird die nächste Grundschulklasse eingeschult.

Quelle: F.A.S. vom 19.05.2012 (mit freundlicher Genehmigung der F.A.S.), Fotos: Johanna Adorjan